Libyen-Geiseln: Zitterpartie geht in die nächste Runde
Die beiden seit 18 Monaten in Libyen festgehaltenen Schweizer müssen sich Anfang Januar erneut vor Gericht verantworten. Dabei wird sich zeigen, ob Libyen weiter auf Rache sinnt oder lediglich seine Gesetze anwendet.
Max Göldi und Rachid Hamdani sind Anfang Januar vorgeladen. In diesem zweiten Prozess gegen die beiden Schweizer geht es um angeblich illegale wirtschaftliche Tätigkeiten. Bereits jetzt ist klar: Libyen hat im Vorfeld der Gerichtsverhandlung seine eigenen Gesetze missachtet.
“Die Regeln für ein faires Gerichtsverfahren sind klar“, sagt der Mediensprecher von Amnesty International Schweiz, Daniel Graf. “Libyen sagt, der Fall sei nicht politisch motiviert, doch bisher gibt es Anzeichen, dass es sich um ein politisches und nicht um ein faires Verfahren handelt. Die nächsten Tage werden Anhaltspunkte geben darüber, in welche Richtung das Verfahren gehen wird.“
Der 54-jährige Max Göldi, Länderchef Libyen des Technologiekonzerns ABB, und der 69-jährige Rachid Hamdani, der in Libyen für eine Schweizer Baufirma tätig war, dürfen seit Juli 2008 nicht aus Libyen ausreisen.
Keine Anklageschrift
Die beiden waren festgenommen worden, nachdem die Genfer Polizei am 15. Juli 2008 einen Sohn des libyschen Machthabers Muammar Gaddafi, Hannibal Gaddafi, und dessen Frau vorübergehend verhaftet hatte. Beiden wurde Misshandlung des Dienstpersonals vorgeworfen. Das war der Ausgangspunkt der bis heute andauernden Krise zwischen Libyen und der Schweiz.
Ende November 2009 wurden die beiden Schweizer von einem libyschen Gericht im Abwesenheitsverfahren zu 16 Monaten Gefängnis und einer Busse von 1500 US-Dollars verurteilt, weil sie gegen die Aufenthaltsbestimmungen verstossen haben sollen.
Die Gerichtsverhandlung dauerte nur kurz und fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Amnesty International und Human Rights Watch sprachen von einem unfairen Verfahren, weil etwa der Anwalt der beiden Schweizer seine Argumente gar nicht hatte vorbringen können. Die Zeit für die Vorbereitung der Verteidigung sei zudem zu knapp gewesen, da keine Anklageschrift vorgelegen habe.
Zeitgewinn
Göldi und Hamdani legten gegen das Urteil Rekurs ein. Der für den 22. Dezember geplante Berufungsprozess wurde auf 2010 verschoben, weil die beiden Schweizer nicht erschienen und stattdessen in der Schweizer Botschaft in Tripolis geblieben waren
Diana Eltahawy, Spezialistin für die Menschenrechte in Nordafrika bei Amnesty International, bezeichnet gegenüber swissinfo.ch die Verschiebung des Prozesses als “gute Neuigkeit“. Dank der gewonnen Zeit könnten die Anwälte die Verteidigung besser vorbereiten und Bern und Tripolis hätten mehr Raum für eine Übereinkunft, so Eltahawy.
Die Anwälte hätten im ersten Prozess keine Einsicht in wichtige Dokumente gehabt, kritisiert Eltahawy: “Die libysche Strafprozessordnung enthält in Übereinstimmung mit internationalen Standards verschiedene Schutzklauseln für Verteidiger. Doch diese Klauseln würden nicht immer angewendet, sagt Eltahawy.
27 Vorwürfe
Ende Dezember hat Libyen im diplomatischen Disput mit der Schweiz neue Vorwürfe erhoben. Auf der Internetseite des Aussenministeriums wurde eine Liste mit 27 Vorwürfen veröffentlicht. So wird der Genfer Polizei unter anderem vorgeworfen, der Sohn von Gaddafi sei körperlich verletzt worden.
Zudem hat Hannibal Gaddafi den Kanton Genf, die Zeitung Tribune de Genève und einen ihrer Journalisten wegen der Veröffentlichung von zwei Polizeifotos Gaddafis eingeklagt. Der libysche Herrschersohn sieht seine Persönlichkeitsrechte verletzt und verlangt eine Entschädigung für die Nachteile, die ihm durch die Publikation der Fotos entstanden seien.
Das libysche System
Was heisst das für das Schicksal der beiden Schweizer? Eltahawy weist darauf hin, es sei schwierig, verschiedene Justizsysteme zu vergleichen. Doch Libyen habe wie jedes andere Land ein Justizsystem mit Vor- und Nachteilen.
Das Land bezeichnet sich selber als direkte Demokratie. Es ist zudem Unterzeichnerstaat verschiedener internationaler Abkommen über die zivilen und die politischen Rechte.
Libyen ist eines der wenigen nordafrikanischen Länder, das seine Gesetze im Hinblick auf den Terrorismus nicht verschärft hat. Gleichzeitig sieht die Gesetzgebung harte Strafen – bis hin zur Todesstrafe – gegen regierungskritische Äusserungen vor.
Sehr schwieriger Entscheid
“Der Fall der beiden Schweizer ist ein sehr spezieller Fall. Er kann nicht von der diplomatischen Krise zwischen der Schweiz und Libyen getrennt werden“, sagt Eltahawy.
Laut libyschem Recht müssen Göldi und Hamdani während der Gerichtsverhandlung wegen ihren angeblichen illegalen wirtschaftlichen Tätigkeiten nicht zwingend anwesend sein. Beim Berufungsprozess wegen den Visa-Vergehen müssen sie laut Eltahawy hingegen anwesend sein. Sonst werde das Urteil definitiv.
“Natürlich ist die Gefahr da, dass sie ausserhalb der Botschaft entführt werden“, sagt Daniel Graf. “Das ist ein sehr schwieriger Entscheid. Selbst wenn der erste Prozess fair gewesen wäre, das Urteil ist nicht fair.“
Tim Neville, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Andreas Keiser)
15. Juli 2008: Hannibal Gaddafi und seine schwangere Frau Aline werden in einem Genfer Hotel festgenommen wegen Verdachts auf Misshandlung von zwei Hausangestellten. Zwei Tage später werden sie gegen Kaution aus der Polizeihaft entlassen.
Juli 2008: Zwei Schweizer Geschäftsleute werden festgenommen wegen angeblicher Verstösse gegen Einwanderungs- und andere Gesetze.
Januar 2009: Ein Treffen von Bundesrätin Calmy-Rey mit dem
Gaddafi-Sohn Saif al-Islam Gaddafi am WEF in Davos bringt keinen Durchbruch.
April: Libyen und das Ehepaar Gaddafi reichen eine Zivilklage gegen den Kanton Genf ein.
Mai: Aussenministerin Micheline Calmy-Rey besucht Libyen und spricht von «bedeutenden Fortschritten».
Juni: Libyen zieht die meisten seiner Gelder von Schweizer Bankkonten ab.
August: Bundespräsident Hans-Rudolf Merz entschuldigt sich in Tripolis beim libyschen Regierungschef Al Mahmudi für die Verhaftung. In einem Vertrag einigt man sich auf die Wiederherstellung der bilateralen Beziehungen innerhalb von 60 Tagen und zur Einsetzung eines Schiedsgerichts.
September: Merz trifft in New York den libyschen Staatschef Gaddafi. Laut Merz versichert ihm Gaddafi, er werde sich persönlich für die Freilassung der festgehaltenen Schweizer einsetzen. Später werden die beiden Schweizer während einer ärztlichen Kontrolle an einen unbekannten Ort gebracht.
Oktober: Eine Schweizer Delegation kehrt mit leeren Händen aus Libyen zurück. Die 60-tägige Frist zur Normalisierung der schweizerisch-libyschen Beziehungen läuft ab. Über den Verbleib der Schweizer Geschäftsleute ist nichts bekannt.
November: Die beiden Schweizer werden von einem einem libyschen Gericht zu 16 Monaten Gefängnis und einer Busse verurteilt, weil sie gegen die Aufenthalts-Bestimmungen verstossen haben sollen.
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