«Wer nicht abstimmen geht, höhlt die Demokratie aus»
Die jungen Schweizerinnen und Schweizer im Ausland würden politisch im Abseits stehen gelassen, findet Lis Zandberg. Um dies zu ändern, engagiert sich die 19-jährige Studentin aus Middleburg in den Niederlanden im neuen und digitalen Jugendparlament der Auslandschweizer. In einer Serie stellen wir 11 leitende Mitglieder vor.
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«Wer nicht abstimmen geht, höhlt die Demokratie aus»
swissinfo.ch: Was wollen Sie als Mitglied des neuen Jugendparlaments der Fünften Schweiz erreichen – erstens in der Schweiz, zweitens in Ihrem Land?
Lis Zandberg: Es ist wichtig, am System der direkten Demokratie in der Schweiz festzuhalten. Der beste Weg dazu besteht darin, die Jungen sehr früh für Politik zu interessieren. Dies trifft für die jungen Leute in der Schweiz zu, nicht aber für die jungen Schweizerinnen und Schweizer im Ausland. So wird eine sehr wichtige Gruppe der jungen Schweizer ignoriert.
Aber nicht nur auf politischer Ebene werden wir abseits stehen gelassen, sondern auf vielen anderen auch. Dies, weil wir über die ganze Welt verstreut sind. Das Jugendparlament der Auslandschweizer wird uns jungen Mitgliedern der fünften Schweiz ermöglichen, miteinander in Kontakt zu kommen. Und dies nicht nur für politische, sondern auch andere Aktivitäten.
Das Jugendparlament der fünften Schweiz kann sich zu einem starken Instrument entwickeln, wenn wir versuchen, es zum Erreichen unserer Ziele zu nutzen.
Ich habe etwa vorgeschlagen, dass die Facebook-Seite auch Knotenpunkt für internationales Couch Surfing (unkompliziertes und günstiges Übernachten auf Reisen, die Red.) sein soll. Weiter haben wir Seminare via Skype abgehalten und wir wollen interessierte Politiker einbinden, die ihre Überzeugungen und Standpunkte gegenüber der Community der fünften Schweiz darlegen und verteidigen sollen.
Aber unser Jugendparlament hat eben erst Fahrt aufgenommen und es wird in den nächsten Jahren sehr viel Arbeit brauchen, die gesetzten Ziele und Visionen tatsächlich zu erreichen.
Ich werde nicht mehr lange in den Niederlanden bleiben, denn ich mache meinen Bachelor im Sommer.
Ich hoffe aber, dass ich hier andere junge Schweizerinnen und Schweizer motivieren kann, eine lebendige Community ins Leben zu rufen, wie dies auch in den anderen Ländern der Welt der Fall sein soll.
swissinfo.ch: Wie sieht es punkto direkte Demokratie in Ihrem Gastland aus? Gibt es Instrumente, die Ihnen besonders gefallen? Und auch solche, die Sie vermissen?
L.Z.: Die Niederlande haben eine parlamentarische Demokratie, also keine direkte. Im Turnus von vier Jahren können die holländischen Staatsbürger über 18 Jahre die Mitglieder der Provinciale Staten wählen, auch Zweite Kammer genannt. Diese bestimmt sodann die Repräsentanten der Ersten Kammer. Ferner wählen die Bürger auch die Mitglieder der Räte in ihren Wohngemeinden sowie die Generalversammlung der regionalen Wasserbehörde.
Die Organisation der holländischen Demokratie basiert auf Montesquieu’s Idee der «Trias Politica» von 1748. Nach seiner Theorie funktioniert Politik nur, wenn ein Gleichgewicht zwischen Legislative (Parlament), Judikative (Gerichte) und Exekutive (Regierung) besteht. Montesquieu plädierte für eine vollständige Trennung der drei Gewalten. Aber in den Niederlanden haben wir eher eine Machtteilung, die durch zahlreiche Mechanismen der Checks and Balances innerhalb der Verwaltung abgesichert ist.
Die Demokratie in den Niederlanden ist relativ frei und setzt ein gewisses Mass an Bürgerbeteiligung voraus.
Es gibt Programme wie Vote Match. Sie helfen den Wählerinnen und Wählern, jene Partei zu finden, die ihre Ideen und Interessen am besten abdeckt. Damit sinken die Barrieren, an den Wahlen teilzunehmen. Ein solches Tool vermisse ich in der Schweiz. Nicht bei den Sachabstimmungen, denn dort will ich mir natürlich meine eigene Meinung bilden, aber für die Parlamentswahlen.
Es gibt so viele Parteien, die alle ihre Standpunkte und Ideen haben, dass ich vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehe.
Womit ich bei der holländischen Demokratie nicht einverstanden bin, ist der Fakt, dass man hier zwar aus mehreren Parteien die Mitglieder des neuen Parlaments wählt. Aber danach hat man vier Jahre lang nichts mehr zu sagen.
Das beschleunigt die politischen Prozesse, denn in der Schweiz bremsen Referendum und kantonale Gesetze die Entscheidungsprozesse doch stark .
Aber die Teilnahme nur an den Wahlen bremst hier den Einbezug der Bürger ins politische Geschehen des Landes und überlässt die Macht einer sehr ausgewählten Gruppe von Personen, die dazu sehr oft ihre Versprechen nicht einlösen.
swissinfo.ch: In den meisten Ländern gehen die Jungen weniger wählen und abstimmen als die anderen Altersgruppen. Ist nicht gerade die direkte Demokratie das Mittel für die Jungen, um ihre Bedürfnisse und Vorstellungen politisch einzubringen?
L.Z.: Natürlich ist sie das. Aber in den letzten Jahrzehnten haben wir eine schwindende Teilnahme an Wahlen gesehen. Die Menschen, Junge wie Alte, scheinen nicht mehr motiviert, die wahren Werte der direkten Demokratie hochzuhalten, was ich für eine Schande halte.
Es hängt auch davon ab, wie man «jung» definiert. Direkte Demokratie mag ein Weg sein, dass über 18-Jährige ihren Willen kundtun.
Aber alle, die noch nicht 18 Jahre alt sind, so motiviert sie auch sein können, können sich in der direkten Demokratie nicht ausdrücken.
Gerade auch ihnen wollen wir mit dem Jugendparlament der Auslandschweizer eine Stimme verschaffen.
swissinfo.ch: Seit den Anschlägen in Paris ist Europa im Banne des IS-Terrors. Ist der Kampf gegen die islamistischen Extremisten, der die Einschränkung individueller Freiheiten bedeutet, eine Gefahr für die Demokratien?
L.Z.: Der so genannte Islamische Staat war lange vor den Anschlägen in Paris in den Köpfen der Menschen in Europa drin. Innerhalb der Politik und der Wissenschaft haben zahlreiche Exponenten die abscheulichen Verbrechen der IS-Terroristen verurteilt.
Aber die Anschläge von Paris haben die Angst bei den Menschen verstärkt, da es die ersten echten Attacken auf europäischem Boden waren. Dadurch hat die Panik eine neue Stufe erreicht, gefolgt von vorschnellen und extrem gefährlichen Massnahmen zur Eliminierung des IS.
Sogar die Niederlande und Belgien, die kaum einen Beitrag zu einem Krieg leisten können, erklärten dieser radikalen Gruppierung den Krieg.
Ich bin überzeugt, dass diese Sicht eine «über-amerikanisierte» Sicht der Wahrheit ist. Die Einschränkung unserer Freiheit und die Verletzung unserer Privatsphäre halte ich für sehr schwerwiegend.
Demokratie ist eine Regierungsform, in der die höchste Macht beim Volk liegt. Das Volk übt die Macht entweder direkt selbst aus oder indirekt durch gewählte Repräsentanten, die in einem freien Wahlsystem bestimmt wurden.
Der Kampf gegen den IS stellt keine Bedrohung der Grundprinzipien der Demokratie dar.
Der wirksame Kampf gegen den IS scheint unmöglich, da dieser keinen international anerkannten Staat mit eigenem Territorium darstellt. Dessen unkonventionelle Strategie kann nicht mit Frontalangriffen oder mit Luftschlägen beantwortet werden.
Die Ära der konventionellen Kriege ist vorbei. Die europäischen Staaten wie auch alle anderen müssen in der Wahl ihrer Strategie sehr vorsichtig sein.
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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