Neu im Schweizer Parlament – und schon unter Druck des Lobbyings
Die Wahlen brachten 54 Neue ins Bundeshaus. Politisch sind sie erfahren, auch Wahlkampf beherrschen sie. Aber was, wenn die Lobbying-Walze kommt?
Der Schweizer Finanzpolitiker Felix Wettstein hat ein besonderes Spezialgebiet: Er macht seit seinem ersten Tag als Nationalrat Beobachtungen zum Lobbying im Parlament von Bern. Wie er tagtäglich umgarnt wird, schildert der Grünen-Politiker regelmässig auf seinem BlogExterner Link.
Entstanden ist das Projekt nach seiner Wahl 2019. Er stellte fest, wie heftig plötzlich alle um ihn warben. 229 Annäherungsversuche von Interessengruppen protokollierte er allein in den ersten zwei Monaten.
Der Druck ist hoch
Heute sieht Wettstein Lobbying als Teil des Systems. «Ich habe nichts dagegen, doch es muss offengelegt werden», sagt er. «Man muss sich nicht der Illusion hingeben, dass wir ohne Einflüsse von aussen unsere Meinung bilden.»
Das plakative Klischee vom Lobbyismus hält sich: Konspirative Treffen in Hinterzimmern, bei denen undurchsichtige Figuren den Abgeordneten ihre Agenda eintrichtern, garniert mit Gefälligkeiten aller Art. «Diese Aussenbilder stimmen nicht», sagt Wettstein.
Wahr ist aber: Der Druck von Interessenvertretenden auf das Schweizer Parlament ist hoch. Am aktivsten und einflussreichsten ist die Gesundheitsbranche.
Die Kraft von 80 Milliarden
Dahinter steht ein gigantischer 80-Milliarden-Franken-Markt, der politisch geregelt und weitgehend durch obligatorische Krankenversicherungen oder die öffentliche Hand finanziert ist. Im Parlament, wo er reguliert wird, laufen die Fäden zusammen.
Lobbydruck entsteht auch, weil darin verschiedene Akteure kämpfen: Die Pharmabranche, die Krankenversicherungen, die Spitäler, Ärzte- und Pflegeverbände, und dann noch die Kantone: Alle wollen für sich das Beste herausholen. Und alle sind sie ausgestattet mit schlagkräftig organisierten Public Affairs-Abteilungen.
Stark im Lobbying ist auch der Finanzmarkt, also das Banken- und Versicherungswesen. Es ist ein 70 Milliardenmarkt, der strengen Regulierungen unterliegt, auf die man Einfluss nehmen will.
Auf Augenhöhe mit dem Finanzmarkt ist der Einfluss der Wirtschaftsdachverbände. Mächtig und aktiv sind zudem die Tourismusbranche, die Bauwirtschaft, die Gewerkschaften und die Umweltverbände.
Massenhaft Annäherungsversuche
Neu gewählte Parlamentarier:innen erleben die ersten Annäherungsversuche schon am Wahltag mit den Gratulationsschreiben. Viele kommen per Mail.
Wenn grosses Interesse im Spiel ist, gibt es Steigerungspotenzial: Ein Brief per Post, von Hand geschrieben, ein Präsent per Post, ein Anruf danach. Zum Jahresende folgt die nächste Flut: Nach den Glückwünschen die Weihnachtswünsche, begleitet von den eigenen Wünschen.
«Die Schwemme ist wahnsinnig», sagt Nina Fehr-Düsel von der SVP, die im Oktober frisch nach Bern gewählt wurde. Sie hat sich vorgenommen, möglichst frei von Einflüssen zu starten.
«Für den Anfang ist mir die Unabhängigkeit sehr wichtig», sagt sie. «Ich schliesse aber nicht aus, dass ich einmal ein Amt oder eine Mitgliedschaft annehme.» Entscheidend werde dabei ihre persönliche Affinität oder ihr thematisches Interesse sein.
Nina Fehr-Düsel ist eine der wenigen Nationalrät:innen, die noch gänzlich frei von Interessenbindungen sind. Das ist öffentlich einsehbar.
Denn alle 246 Abgeordneten des Schweizer Parlaments müssen angeben, für welche Organisationen sie tätig sind, wo sie Mitglied sind und wer sie bezahlt. Das schafft eine gewisse Transparenz.
Die aktuellen Listen mit den Interessenbindungen (Liste NationalratExterner Link) verraten: Die meisten Volksvertreter:innen haben weniger als ein Dutzend Mandate, und die Mehrheit dieser Mandate ist nicht bezahlt. Eine Handvoll Parlamentarier aber ist mit über 25 Organisationen verbandelt.
Spitzenreiter der Mandate-Sammler:innen ist Nationalrat Peter Schilliger, FDP. Der Wahlslogan auf seiner Webseite lautet: «Für Sie im Nationalrat.» Zugleich hält er laut Liste der Interessenbindungen 27 Mandate, 21 davon sind bezahlt.
Doch was bringt eine solche Liste? Die Anti-Korruptions-Organisation Transparency international kritisiert, dass in der Schweiz die Geldflüsse für bezahlte Mandate trotzdem im Dunkeln bleiben, und dass dieses Register nur auf Selbstdeklaration beruht.
Die Lobby-Regeln in der Schweizer Politik seien «rudimentär». Auch die Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) fordert regelmässig: Schweizer Parlamentarier:innen sollten endlich deklarieren, wie viel sie mit ihren Nebeneinkünften verdienen.
Eine weitere Lobbying-Liste des Schweizer Parlaments registriert die persönlichen Zutrittsberechtigungen (Liste NationalratExterner Link) zum Bundeshaus, die jede:r Parlamentarier:in an zwei Personen vergeben darf.
Gedacht ist dieser Gastzugang für persönliche Mitarbeitende oder Vertraute. Sehr oft wird der streng limitierte Zutritt in die Hallen der Entscheidungen aber Lobbyist:innen zugeschanzt.
Grundsätzliche Kritik daran gibt es nicht. Transparency international bemängelt aber, dass auch über die derart akkreditieren Lobbyist:innen keine Transparenz herrscht. Wem sie dienen und was sie wollen, bleibt undurchsichtig.
Lobbyist:innen wollen ins Bundeshaus
Wie begehrt die Zutrittsbadges sind, erleben Neugewählte rasch. Nationalrat Hasan Candan von der SP berichtet von fünf bis sechs Anfragen, noch bevor die erste Session begonnen habe.
Vergeben hat er noch keinen Badge. «Ich mache das von der Kommission abhängig, in der ich lande», sagt er. Auch Candan gehört noch zu den ganz wenigen ohne jegliche Spur einer Interessenbindung.
Er will seine Badges so vergeben, dass es ihm bei der Arbeit in seinen Themen nützt. Ihm gehe es um Unterstützung in aufwändigen Dossiers, um gut aufbereitete Informationen, sagt er, denn: «Wissen ist Einfluss.»
Von der Politikerin zur Lobbyistin
Der Weg, um selbst zum Influencer oder zur Influencerin im Parlament zu werden, ist für die 54 Noviz:innen vorgespurt. Erst haben sie haben ihre Spezialisierung, ihre persönliche Themen-Affinität, dann folgt vertiefte Dossierarbeit darin.
Kommt danach ein politisches Geschäft aus diesem Gebiet in die Räte, nutzt man sein Netzwerk und bearbeitet auch mal politische Gegner, um Mehrheiten für seine Interessen zu finden.
Das ist Lobbyismus in Reinform. «Die mächtigsten Lobbyisten? Es sind die Parlamentarier«, schrieb SWI swissinfo.ch schon vor Jahren. Lobbyismus-Beobachter Felix Wettstein stimmt dem zu.
«Es gibt solche, die ihr Mandat als Lobbyist:in ausfüllen», sagt er. «Viele von uns sind das. Und das ist auch okay, solange es transparent ist.»
Eine problematische Seite hat es dennoch. Die Lobby-Parlamentarier:innen versammeln sich vor allem in den einflussreichen Kommissionen, welche die Parlamentsgeschäfte vorbereiten.
Sie tragen dabei zwei Hüte, einen des Volksvertreters und einen ihrer Auftraggeberinnen.
Folge des Milizsystems
Einige sehen darin eine zwangsläufige Kollateral-Erscheinung eines Milizparlaments, andere eine Form von Käuflichkeit. Störend ist es für viele.
Schliesslich ist Kommissionsarbeit eine Operation am offenen Herzen der Demokratie, da wird Einfluss von aussen schnell als verunreinigend erlebt.
Lobbying ist nicht zu bremsen
Das führte zu einer bemerkenswerten Forderung: Wer in einer Kommission sitzt, soll keine bezahlten Mandate mehr annehmen dürfen. Zumindest nicht von Organisationen, die von der Arbeit dieser Kommission betroffen sind, forderteExterner Link 2019 der Ständerat Beat Rieder (Mitte).
Weit herum im Parlament von Bern fand man diese Idee gut. Denn vielen fällt auf: Gerade Kommissionsmitglieder ergattern, kaum sind sie drin, Verwaltungsratsmandate bei Versicherungen, Krankenkassen oder Banken.
«Wenn man sieht, was dort bezahlt wird, dann ist klar, dass man in den Graubereich der Korruption kommt», sagte ein FDP-Ständerat in der Debatte um den Vorstoss von Beat Rieder. 2022 versenkte man die Idee trotzdem. Ein Milizparlament verlange freie Abgeordnete, lautete der Tenor.
Zwei Hüte
So kam es, dass Ende der letzten Legislatur 90 der 246 Parlamentsmitgliedern im Dienste von Playern aus dem Gesundheitswesen standen. Und so geht es nun wieder aufs Neue los.
«Jetzt werden die Mitglieder der Gesundheitskommission bestimmt», sagt Samira Marti, «und ein paar Monate später sitzt der grosse Teil der bürgerlichen Parlamentarier:innen davon im Verwaltungsrat einer Krankenkasse.» Marti ist Co-Fraktionschefin der Sozialdemokraten.
Und sie ist die einzige Parlamentarierin, die bereits in der zweiten Legislatur steht und noch immer ganz ohne deklarationspflichtige Interessenbindungen Politik macht. Sie brauche diese nicht, sagt sie. «Mein Netzwerk ist stark genug und meine Türen stehen allen offen.»
Die Organisation LobbywatchExterner Link dokumentiert die Interessenbindungen im Schweizer Parlament akribisch und legt die Mechanismen der Lobbybranche regelmässig offen. Journalist Thomas Angeli, der das Projekt leitet, sagt: «Immer mehr Politiker:innen verstehen ihr Parlamentsmandat als Businessmodell, um lukrative Posten zu erhalten.»
Bleibt die Frage: Entscheidet das Schweizer Parlament noch frei?
Lobby-Beobachter Felix sagt: «Die Empfehlungen, die Lobbys verschicken, schaffen wohl selten neue Mehrheiten.» Man orientiere sich als Parlamentarier:in eher an den Vorgaben seiner Partei, sagt er, «oder man folgt den Empfehlungen seiner Parteikolleg:innen aus den vorberatenden Kommissionen.»
Das aber sind die Gremien, wo die Kolleg:innen mit den beiden Hüten sitzen.
PLACEHOLDERIn Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch