Lohnunterschiede sind immer noch ein Faktum
Es war die grösste Demonstration im Land seit dem Generalstreik von 1918: Der Frauenstreik am 14. Juni 1991. 20 Jahre danach erinnert sich die Schweizer Presse an das Happening mit ernsthaften Anliegen. Das wichtigste – die Lohngleichheit – ist noch nicht erfüllt.
Die Forderungen der Gewerkschaften im Hinblick auf die Aktionen zum 20-Jahre-Jubiläum seien praktisch dieselben wir vor 20 Jahren, stellt die Neue Zürcher Zeitung fest und nennt die Forderungen von damals: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, eine familienverträgliche Verteilung der Erwerbs- und Hausarbeit und genügend staatlich finanzierte Krippenplätze.
Zwar hätten die Frauen in den vergangenen 20 Jahren viel erreicht, schreibt die NZZ. Dennoch sei die Gleichstellung «noch nicht in allen Köpfen» angekommen, zitiert das Blatt eine Gewerkschafterin.
Der Blick erklärt seinen Leserinnen und Lesern «warum die Frauen heute» pfeifen, respektive, warum exakt 20 Jahre nach dem Ereignis wiederum Frauen im ganzen Land auf die Strasse gehen und streiken werden.
30% weniger als Männer
«Die Aktivistinnen sehen diese Forderungen immer noch nicht erfüllt», so der Blick: «Eine aktuelle Studie zeigt, dass während eines Berufslebens einer Frau durchschnittlich 380’000 Franken vorenthalten werden, nur weil sie eine Frau ist.»
Die Lohnungleichheit sei noch immer ein Faktum, stellt auch die NZZ fest und bezieht sich dabei auf verschiedene Studien. Demnach verdienten im Jahr 2006 Frauen im Schnitt 24% weniger als Männer, Akademikerinnen sogar 30% weniger als ihre gleichwertig ausgebildeten Kollegen.
Trotz Verboten ein Grosserfolg
«Der Aktionstag hatte nachhaltige Wirkung», bilanziert die Historikerin Elisabeth Joris in ihrer Analyse in der NZZ. Joris zeigt dabei auf, dass der Frauenstreik auch die Folge einer jahrelangen Aufbauarbeit engagierter Feministinnen war: «Sie prangerten die zum Teil krasse Diskriminierung von Frauen in den Gesamtarbeitsverträgen an, beteiligten sich an der Erneuerung der gewerkschaftlichen Frauenstrukturen, brachten an Kongressen ihre Sicht ein und verhalfen mit geschickter Taktik Gewerkschafterinnen zur Wahl in die Führungsgremien, was später den Frauenstreik erst möglich machen sollte.»
Gewerkschafter, die sich im Vorfeld dagegen wehrten, dass ihre schärfste Waffe – ein Streik – für Frauenanliegen «missbraucht» werde, bürgerliche Politikerinnen, die befürchteten, ein Streik sei kontraproduktiv für die Gleichstellung, und zahlreiche Männer in Führungspositionen, die ihren weiblichen Angestellten das Streiken verbieten wollten: Der Widerstand gegen den Aktionstag war breit. Dennoch beteiligten sich 500’000 Frauen unter dem Motto «Wenn Frau will, steht alles still.» am Frauenstreik.
«Happening mit Nachhall»
Stillgestanden ist die Schweiz an diesem Tag zwar nicht, aber der Streik hatte Auswirkungen bis in die höchste politische Führungsebene des Landes. Der Tag selber geriet zu einen «Happening mit Nachhall», so die NZZ.: «Frau trug Pink oder Violett und hielt den obligaten Lila-Ballon, bedruckt mit einem Paar Frauenaugen in die Höhe. Das Reizwort Streik hatte dem Anlass die nötige Aufmerksamkeit verliehen, auch wenn nur eine kleine Minderheit die Arbeit für längere Zeit niederlegte.»
Knapp zwei Jahre später habe die Schweiz «die Macht der erstarkten Frauen wieder zu spüren» bekommen, schreibt die NZZ: «Als der Frauenstreik-Organisatorin Christiane Brunner die Wahl in den Bundesrat verwehrt wurde, erzwangen sie mit dem Druck der Strasse den Verzicht des Sozialdemokraten Francis Matthey auf das Amt zugunsten von Ruth Dreifuss.»
Geboren in der Romandie
Geboren wurde die Idee zum Frauenstreik in der Romandie, genauer im Vallée de Joux. Organisierte Uhrenarbeiterinnen empörten sich , dass trotz Lohngleichheit in der Verfassung Frauen immer noch weniger verdienten als Männer. Sie waren es, welche die damalige Gewerkschafterin Christiane Brunner kontaktierten.
Brunner gelang es, die skeptische Spitze der Gewerkschaft von der Idee zu überzeugen. Im Oktober 1990 hiess der Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) einstimmig den Antrag der Frauengruppe des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiter-Verbandes (SMUV) auf Durchführung eines Frauenstreiks gut.
Die andere Sicht
«Stopp den Lohnungleichheiten», titelt das Westschweizer Boulevardblatt Le Matin 20 Jahre später auf der Titelseite und bringt ein doppelseitiges Interview mit einer Karriere-Frau, mit Christina Gaggini, der Westschweizer Direktorin des Wirtschafts-Dachverbandes economiesuisse
«Nein, ich habe bisher nicht unter der Lohndiskriminierung gelitten, aber ich habe lernen müssen, in Lohnfragen besser zu verhandeln», sagt Gaggini. Auf die Frage, ob es heute in Arbeitgeberkreisen noch so was gebe wie Frauenfeindlichkeit oder Machismus antwortet sie: «Im Gegenteil, ich würde eher sagen, dass es heute für gewisse Frauen leichter ist, gewisse Jobs zu erhalten, weil sie Frauen sind.»
«Achtung. Fertig. Frauen los!» Unter diesem Motto erobern die Frauen heute Dienstag in der ganzen Schweiz die Strassen.
Die über 50 beteiligten Organisationen, Parteien und Gewerkschaften erwarten zum Frauenstreik- und Aktionstag rund 100’000 Demonstrantinnen und Demonstranten.
Mit Megafonen, Transparenten und fuchsia-farbenen Kleidern ausgerüstet, werden Männer und Frauen in mindestens 18 Kantonen für gerechte Löhne und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf demonstrieren.
In den grösseren Städten finden nebst Kundgebungen auch Aktionen und Feste statt.
So werden in Zürich Lohnrechner aufgestellt, in Basel gibt es unter dem Motto «Reclaim the Mall» Streikumzüge in Einkaufszentren, in Bern wird ein Frauenfest gefeiert und in Genf der Jet d’Eau violett eingefärbt. In Lugano wird schmutzige Wäsche aufgehängt.
Punkt 14.06 Uhr soll in der ganzen Schweiz ein lautes Pfeifkonzert, der «Anpfiff für faire Löhne», stattfinden.
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