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Macht das WEF Ernst im Kampf gegen Ungleichheit?

Wenn die Reichen immer noch reicher werden, ziehen sie dem sozialen Weltfrieden den Stecker, warnt die diesjährige Ko-Direktorin des WEF in Davos. Keystone

Das Weltwirtschafts-Forum (WEF) ist für Führungskräfte aus der Zivilgesellschaft ein geeignetes Forum, um über Armut, Ungleichheit und Klimawandel zu diskutieren. Sein Einfluss ist aber begrenzt: Dieser Ansicht ist Lesley-Anne Knight, eine Vorkämpferin für soziale Grundrechte.

Das WEF sah sich in diesem Jahr einmal mehr gezwungen, sich gegen Vorwürfe zu verteidigen, es sei nicht mehr als ein Debattier-Club für die Reichen und Mächtigen.

Das WEF zieht aber auch eine breite Palette von Nichtregierungs-Organisationen (NGOs) an – Oxfam, Amnesty International und der WWF gehören zu den Organisationen, die dieses Jahr vom 21. bis 24. Januar in Davos anwesend sein werden.

Nicht mehr auf der WEF-Teilnehmerliste: Lesley-Anne Knight. Jeff Moore/The Elders

Knight hat schon vier Mal am WEF teilgenommen, als Chefin der katholischen Hilfsorganisation Caritas. Heute ist sie Direktorin der humanitären Organisation The Elders, die 2007 von Nelson Mandela ins Leben gerufen wurde.

swissinfo.ch: Was bietet das WEF Organisationen aus der Zivilgesellschaft und deren Anliegen tatsächlich?

Lesley-Anne Knight: Ich erinnere mich, wie ich mir jedes Jahr den Kopf zerbrach ob dieser Frage, und ich bin sicher, dass jene, die teilnehmen, sich auch fragen: «Soll ich gehen oder nicht?» Da gibt es einerseits die Versuchung zu denken: «Wie entziehe ich mich dem?», andererseits aber auch die Frage: «Wie mache ich das Beste aus dieser Gelegenheit, um das Bewusstsein zu schärfen?»

Davos ist einer der wenigen Orte, wo man die Möglichkeit hat, an wirklich einflussreiche Wirtschaftskräfte heranzukommen, sowie an Politiker und Organisationen aus der Zivilgesellschaft. Diese drei Kerngruppen arbeiten immer mehr zusammen, weil wir alle miteinander verbunden sind, und weil bei der Lösung sozialer Probleme alle eine Rolle zu spielen haben. Die Zivilgesellschaft erhebt nicht den Anspruch, alle Antworten zu haben – wir brauchen einander, um bessere Lösungen zu finden.

Und ist das WEF, wo so viel Reichtum auf einmal zusammenkommt, der richtige Ort, um über Ungleichheit und Armut zu sprechen? Ja, es ist der Ort, wo dies getan werden muss.

swissinfo.ch: Wie wissen Sie, dass Führungskräfte der Wirtschaft nicht nur nicken und in der Öffentlichkeit die richtigen Dinge sagen, nur um später ihr Wort zu brechen?

L.A.K.: Wirtschaftsführer, die in ein vom Krieg zerrissenes Land investieren wollen, wissen, dass sie eng mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten müssen, wenn ihre Zielsetzungen Erfolg haben sollen. Es gibt eine Affinität, die beste Umgebung zu finden, damit die Leute prosperieren können. Man kann auch Geschäfte machen und etwas Gutes tun.

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Ich denke, das ist auch an einer Veranstaltung wie Davos eine feste Überzeugung. Die Leute hören ernsthaft zu, was die Zivilgesellschaft zu sagen hat. Wirtschaftsführer und Financiers legen nicht nur ein Lippenbekenntnis zur Unternehmensverantwortung ab, sie wollen, dass man sieht, wie sie das Richtige tun.

Im Gegenteil, Wirtschaftsführer leisten in Bereichen wie Entwicklung und humanitäre Hilfe grosse Beiträge.

Oxfam, Ungleichheit & WEF

Winnie Byanyima, CEO von der britischen Hilfsorganisation Oxfam International, fungiert am diesjährigen WEF als Ko-Direktorin, um am Jahrestreffen grössere Aufmerksamkeit auf das Problem der wachsende Konzentration von Vermögen in den Händen einer winzigen Minderheit zu legen.

Die NGO hat am Montag ihren Bericht «Wealth: Having it all and wanting more» publiziert («Vermögen: Alles haben und noch mehr wollen»). Gemäss der Studie besassen 2014 die Reichsten 1% fast die Hälfte aller Vermögen weltweit (48%). 2016 werde der Anteil über 50% liegen, sagte Winnie Byanyima gegenüber swissinfo.ch.

«Davos ist eine einzigartige Gelegenheit für Oxfam, unsere Bedenken Führern aus Politik und Wirtschaft zu äussern. Auch können wir ihnen die negativen Konsequenzen ihres Handeln für die Armen der Welt aufzeigen. Die Rolle Oxfams ist es, diese Leute herauszufordern: Wir zeigen ihnen, dass sie eine zentrale Rolle im Aufbau einer Welt spielen können und sollen, die frei von der Ungerechtigkeit der Armut ist.»

Oxfam stelle sich nicht gegen Reichtum oder reiche Menschen. «Es ist der Graben zwischen den Reichen und den Armen, der ein Problem darstellt. Wir leben in einer Welt, die die Bedürfnisse aller befriedigen kann. Aber wir sehen viele Menschen in Armut leben, während daneben grosser Reichtum herrscht. Das ist eine Ungerechtigkeit, und die Ärmsten bezahlen den Preis.»

Heute besässen 80 Personen dasselbe Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschen auf der Welt. «2016 werden die reichsten 1% gleichviel besitzen wie wir anderen, die 99% ausmachen. Das ist stossend, ungerecht und gefährlich.»

Byanyima zeigte sich erfreut, dass das WEF diese Gefahr erkannt habe und eine Führungsperson aus der Zivilgesellschaft am WEF als Ko-Direktorin eingesetzt habe – notabene erst zum zweiten Mal in 45 Jahren.

swissinfo.ch: Welche Ergebnisse haben Sie denn gesehen, die sich aus früheren WEF-Treffen ergaben?

L.A.K.: In welchem Mass sich aus dem WEF wirklicher Wandel ergab, sollten die Organisatoren wahrscheinlich besser aufzeigen, als sie es bisher tun. Man kann es zynisch betrachten und sich fragen, welche substanziellen Veränderungen die 45 Jahre Treffen in Davos nach sich gezogen haben. Es ist jedoch etwas, das sehr schwierig zu messen ist.

Wer in Davos ist, knüpft Kontakte, wovon das Unternehmen oder die  Organisation später profitieren können soll. Die wichtigsten Dinge geschehen am WEF in den Korridoren, nach den Podiumsdiskussionen. Und Davos bietet dazu eine sehr komfortable Möglichkeit. Ob der Nutzen die Teilnahme-Kosten der immer wert war, ist fraglich.

swissinfo.ch: Neben den Kosten für die Teilnahme am WEF, gab es andere Einschränkungen?

L.A.K.: Zu den Aspekten, welche die Leute an Davos stört, gehört die Exklusivität – und ich denke, sie haben nicht ganz Unrecht. Sogar eine internationale Nichtregierungs-Organisation mit einem enormen Budget wird sich am äusseren Rande jener Kerngruppe finden, die das WEF am Laufen hält.

Wir müssen auf allen Ebenen auf der Hut sein gegen soziale Ausgrenzung. Wohin man auch schaut, besteht die Gefahr, dass die Zahl jener, die über die Schlüssel zum grössten Reichtum verfügen, im Vergleich zum Rest der Welt immer kleiner wird. Und ich denke, Davos ist in diesem Bereich nicht eben hilfreich.

Ich erinnere mich, wie ich nach meinen ersten zwei Treffen dachte: «Brauche ich das wirklich, soll ich erneut hingehen?» Ich hatte etwas Angst, ich könnte etwas verpassen, wenn ich nicht wieder gehen würde. Jetzt fühle ich mich sicher und selbstbewusst genug, sagen zu können, dass ich nichts verpasse und nicht dort sein muss, nur um dort gesehen zu werden.

Um ehrlich zu sein, für Gruppen aus der Zivilgesellschaft ist es eine Art Zoo. Und es kann schwierig sein, an jene Dinge heranzukommen, die für mich nützlich sein würden, oder Leute persönlich zu treffen. Zudem wird man eng an die Kandare genommen, wenn es darum geht, was man während einer Podiumsdiskussion sagen kann.

swissinfo.ch: So gehen Sie dieses Jahr also nicht ans WEF?

L.A.K.: Ich brauche heute keine Einladung nach Davos mehr. Ich glaube, ich kann die Botschaft meiner Organisation – wofür wir einstehen, unsere Werte – auf andere Weise verbreiten. Ich betrachte Davos nicht als meinen Einflussbereich, nicht als Ort, an dem ich an meinem Netzwerk arbeite. Es ist nicht notwendig.

Es gibt andere wertvolle Foren: Die Sicherheitskonferenz in München, der UNO-Klimagipfel vom letzten Jahr, das Welt-Sozialforum.

Heute, wo wir aufgrund von IT und Social Media ständig in Kontakt miteinander sind, ist der Bedarf nur noch begrenzt, sich an solch sehr teuren Foren mit ihren hohen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Wir wählen heutzutage viel selektiver aus, wo wir teilnehmen.

Jene, die ans WEF gehen, müssen wissen, wieso sie eingeladen wurden und was sie dort tun wollen. Sonst droht ihnen die Kritik, dass sie einfach eine wunderbare Party im Schnee besuchen. Wir haben heute keine Zeit für so etwas – wir sind alle viel stärker darauf fokussiert, was wir erreichen wollen.

WEF Davos 2015

Das 45. Jahrestreffen des World Economic Forum (WEF) findet vom 21. bis 24. Januar zum Motto «Der neue globale Kontext» statt.

2500 Delegierte – eine Rekordzahl – aus den Bereichen Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft, Kultur, Religion und Wissenschaft haben sich angemeldet. Zu den Teilnehmern gehören auch rund 40 Staats- und Regierungschefs, darunter Frankreichs Präsident François Hollande, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und Chinas Premierminister Li Keqiang.

Eine Reihe von Podiumsdiskussionen wird sich mit 10 Hauptthemen befassen: Umwelt und Ressourcenknappheit; berufliches Können und menschliches Kapital; Gleichstellung der Geschlechter; langfristige Investitionen, Infrastruktur und Entwicklung; Nahrungsmittelsicherheit und Landwirtschaft; internationaler Handel und Investitionen; Zukunft des Internet; globale Kriminalität und Kampf gegen Korruption; soziale Eingliederung sowie Zukunft der Finanzsysteme.

Das WEF erklärte, die Podiumsdiskussionen vom Freitag würden nach den terroristischen Angriffen in Paris gegen das Satire-Magazin Charlie Hebdo dem Kampf gegen religiösen Extremismus und Gewalt gewidmet. Verschiedene Kommentatoren, darunter Lesley-Anne Knight, sind der Meinung, die Angriffe seien ein Ausdruck von sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung gewesen.

Das WEF wurde 1971 von Klaus Schwab gegründet, damals unter dem Namen «Europäisches Management-Forum». Es war dazu konzipiert, Wirtschaftsmanager aus Europa mit ihren Kollegen in den USA zu vernetzen, um Wege zu finden, Beziehungen zu fördern und Probleme zu lösen. 1987 wurde die Veranstaltung zum WEF, als die Plattform sich der Suche nach Lösungen für internationale Probleme öffnete.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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