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Macron will keine direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild

Emmanuel Macron spricht am 15. Januar 2019 im Rahmen des offiziellen Starts der "grossen nationalen Debatte" zu rund 600 Bürgermeister:innen. AFP

Während der Präsidentschaftswahl in Frankreich werden die Rufe nach direkter Demokratie nach Schweizer Vorbild lauter. Aber Amtsinhaber Emmanuel Macron setzt lieber auf unverbindliche Partizipationsmöglichkeiten für Bürger:innen.

Sollte Emmanuel Macron bei den Präsidentschaftswahlen im April nicht gewinnen, wartet eine wahre Referendumsflut auf Frankreich. Die republikanische Kandidatin Valérie Pécresse verspricht gleich drei Volksbefragungen: zu den Themen Einwanderung, Sicherheit und Laizismus. Falls Frankreich den Ultranationalisten Éric Zemmour wählen sollte, will dieser darüber abstimmen lassen, die Einwanderung zu stoppen und Millionen von Ausländer:innen abzuschieben.

So funktionieren Referenden in der Fünften Republik: Der Präsident (vielleicht in Zukunft auch einmal: die Präsidentin) entscheidet nach eigenem Ermessen, also von oben herab, welche Themen dem Volk vorlegt werden. Das letzte Mal wurde das Volk 2005 von Jacques Chirac über die EU-Verfassung befragt. Das Volk sagte «Nein», wenige Jahre später setzte sich das Parlament darüber hinweg.

Ein Grossteil der Öffentlichkeit ist jedoch mit dieser Top-Down-Demokratie, vom Élysée-Palast orchestriert wird, nicht mehr zufrieden. Die Französinnen und Franzosen fordern mehr. Direkte Demokratie ist im westlichen Nachbarland in Mode gekommen.

Während des Zweiten Kaiserreichs (1851-1870) formalisierte Napoleon III. das Plebiszit, das bereits von seinem Onkel Napoleon I. praktiziert worden war. Jede Änderung der Verfassung wurde einem vom Herrscher angesetzten Plebiszit unterworfen. Im Grunde handelte es sich dabei um ein persönliches Machtinstrument, mit dem das Parlament und die Zwischengewalten umgangen werden konnten. Auf den Stimmzetteln wurde häufig das «Ja» aufgedruckt, während das «Nein» von Wählern verfasst werden muss, die manchmal Analphabeten waren.

Als General de Gaulle 1958 an die Macht zurückkehrte, führte er in seiner Fünften Republik das Referendum ein, um einen Vertrag zu ratifizieren oder die Organisation der öffentlichen Hand zu ändern. De Gaulle stellte diese Referenden jedoch als «Vertrauensfragen» dar, seine Gegner:innen prangerten sie als verdeckte Plebiszite an.

Das 2008 unter der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy eingeführte référendum d’initiative partagée (RIP), das dem Volk mehr Macht verleihen soll, bleibt sehr restriktiv. Um ein RIP einzuleiten, müssen ein Fünftel der Parlamentarier:innen und ein Zehntel der Wählerschaft, d. h. etwa 4,7 Millionen, für das Anliegen einstehen. Bisher ist noch kein RIP zustande gekommen.

Abstimmungen werden abgehalten, auch wenn sich dadurch nicht viel ändert. Fast 170’000 Elsässer:innen haben sich gerade für einen Austritt aus der Region Grand Est ausgesprochen – eine rein konsultative Abstimmung. Ihr Initiator, Frédéric Bierry, Präsident der Collectivité Européenne d’Alsace, setzt sich ein für ein System «wie in der Schweiz, mit einer echten Gesetzgebungsbefugnis. Die Idee ist, dass die Bevölkerung zu grossen lokalen oder nationalen Herausforderungen befragt werden kann und dass das Ergebnis dieser Abstimmung für die Institutionen verbindlich ist», sagte er in der Zeitung Le Monde.

Die Schweiz als demokratisches «Eldorado»

In fast allen Programme der linken Kandidat:innen stösst man auf die Abkürzung RIC. Sie steht für Référendum d’initiative citoyenne, ein Initiativrecht nach dem Vorbild der Schweiz. Es war 2018/19 der wichtigste Slogan der «Gelbwesten». Damals zeigten die Demonstrant:innen dieser Protestbewegung die drei Buchstaben auf ihren Transparenten, neben «Macron démission!» («Macron zurücktreten!»). Und sahen in der Schweiz eine Art demokratisches Eldorado.

Clara Egger, espoir RIC
Clara Egger. Neyer Valeriano

Clara Egger trat unter Fahne des RIC bei den Präsidentschaftswahlen an. Sie konnte jedoch nur 34 gewählte Mandatsträger:innen zu einer Unterstützung gewinnen – für die Teilnahme an der Wahl aber sind 500 Unterschriften von Amtsträger:innen nötig. So nahm Eggers Kampagne ein frühzeitiges Ende. «Das ist natürlich ein Misserfolg, aber dieses Abenteuer hat unserem Referendum zu mehr Sichtbarkeit verholfen», sagt Egger, die an der Universität Groningen in den Niederlanden internationale Beziehungen lehrt.

Ihr System aus Referendum und Volksinitiative ist fast ein Copy and Paste des helvetischen Systems, das sie während ihrer Lehrtätigkeit in Genf sehr beeindruckt hat. Ihr Vorschlag für das RIC wurde sogar von dem zentristischen Abgeordneten Jean Lassalle, der ebenfalls für die Präsidentschaftswahlen kandidiert, in der Nationalversammlung vorgestellt. Ohne Erfolg. «Nur sieben Abgeordnete haben dafür gestimmt, obwohl Umfragen zeigen, dass 73% der Franzosen dieses System unterstützen», sagt Clara Egger.

Andere Kandidat:innen, zum Beispiel der linkspopulistische Jean-Luc Mélenchon, schlagen das RIC ebenfalls vor. «Aber es ist in ihren Programmen oft ungenau und nicht spezifisch genug», bedauert Clara Egger.

Macron zieht partizipative Demokratie vor

Emmanuel Macron seinerseits zeichnet sich durch seine Vorsicht aus. Der Mann aus der Verwaltung und der Finanzwelt hatte keine Vorliebe für direkte oder partizipative Demokratie, als er 2017 in den Élysée-Palast gewählt wurde. Dennoch ist es ihm gelungen, das Vertrauen der Franzosen und Französinnen teilweise wiederzugewinnen.

François Chérix. RTS-SWI

Um die Gelbwestenkrise zu überwinden, rief er Anfang 2019 die Grand Débat (Grosse Debatte) und anschliessend den Bürgerkonvent für das Klima ins Leben. Zehntausende Bürger:innen nehmen an diesen Foren teil, debattieren, erfinden, träumen und schreiben Cahiers de doléance (Beschwerdehefte). Abgesehen von einigen Vorschlägen, die in das Klimagesetz aufgenommen wurden, fanden die Beiträge der Basis keinen Weg in die Gesetzgebung.

«Macron hat zu Recht versucht, die partizipative Demokratie zu entwickeln», sagt François Chérix, ein Schweizer Politologe und Politiker. Er hält die Versuche durchaus für glaubwürdig.

«Für Macron sind die Grand Débat und der Bürgerkonvent für das Klima mehr als eine Parade gegen die Gelbwesten, mehr als ein ‹Trick›, um sich aus der Affäre zu stehlen», glaubt der Sozialdemokrat Chérix. «Es ist ein ehrlicher Versuch, das Zusammenspiel zwischen Bürger:innen und Entscheidungsträgern zu stärken.» Ohne allerdings die Macht an das Volk abzugeben. «Die Übung ist sehr komplex», fügt Chérix hinzu. «Die partizipative Demokratie darf nicht in Konkurrenz zur repräsentativen Demokratie treten.»

Alles ändern, damit sich nichts ändert

Der Politologe Guillaume Gourgues ist da anderer Ansicht. Der Forscher, der seit zehn Jahren Frankreichs Ausflüge in die partizipative Demokratie untersucht, ist der Meinung, dass der «‹partizipative Staat› sehr wohl darin besteht, alles zu ändern, damit sich nichts ändert.» Der Staat lege die Konturen dieser «konformen» Partizipation fest, bei der jede Bürgerinitiative abgelehnt werde und die eher einem Managementinstrument gleiche, so Gourgues, der an der Universität Lumière in Lyon lehrt.

Guillaume Gourgues. © Alexis Grattier-Université Lumière Lyon 2

Nun könnte der Kandidat Macron diesen Weg durchaus weiterverfolgen. «Die Idee einer grösseren Bürgerbeteiligung bei der Ausarbeitung von Gesetzen, die gestern noch als politische Spielerei mit einem Hauch von Demagogie galt, ist heute Konsens in der Macronie», stellt die Zeitung Le Monde fest.

Gourgues vermisst, dass diese Bürgerbeteiligung, die als «punktuelle Hilfe bei der Entscheidungsfindung» gesehen wird, im Gegensatz zur direkten Demokratie in der Schweiz nicht verbindlich ist.

Ist die Aufregung um das Referendum also rein wahltaktisch motiviert? «Bereits 1993 sprachen viele Präsidentschaftskandidaten von einer Volksinitiative…», lautet dazu die lakonische Antwort von Clara Egger.

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