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Mächtigste Lobby verliert Glaubwürdigkeit

Die gemeinsame Rücktrittsankündigung von Economiesuisse-Präsident Rudolf Wehrli und -Direktor Pascal Gentinetta kam recht überraschend. Keystone

Verlorene Abstimmungen, Austritts-Androhungen, Demission der Führungsriege: Beim Dachverband der Schweizer Wirtschaft ist Feuer im Dach. Economiesuisse bezahlt den Preis für strategische Fehler und hat immer mehr Mühe, die diversen Interessen ihrer Mitglieder unter einen Hut zu bringen.

Am 16. Oktober 2008, inmitten der ausbrechenden internationalen Finanzkrise, publiziert der damalige Economiesuisse-Präsident Gerold Bührer einen Artikel, in dem er betont, die Schweizer Banken «widerstehen dem Sturm einmal mehr», gehörten sie doch «zu den bestkapitalisierten Instituten der Welt».

Gleichentags kündigen die Schweizer Regierung und die Schweizerische Nationalbank (SNB) ein Hilfspaket über 68 Milliarden Franken zur Rettung der Grossbank UBS an.

Damals fragten sich nur wenige: Hat die Führung des wichtigsten Schweizer Wirtschaftsverbandes, der von vielen eine zu grosse Nähe am Bankensektor nachgesagt wurde, den Bezug zur Realität verloren?

Heute beantworten viele diese Frage mit einem «Ja», angesichts der Krise, in der sich Economiesuisse seit einigem Monaten befindet. Eine Krise, die letzte Woche in der Demission von Präsident Rudolf Wehrli und Direktor Pascal Gentinetta gipfelte.

Der Wirtschafts-Dachverband entstand 2000 aus dem Vorort (Schweizerischer Handels- und Industrieverein) und der Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft (wf).

Der Vorort, 1870 entstanden, verfügte bereits seit langer Zeit über einen enormen wirtschaftlichen Einfluss. Sein Präsident wurde oft als das achte Mitglied der Landesregierung (Bundesrat) bezeichnet.

Heute vertritt Economiesuisse über 100 Branchenverbände, 20 Handelskammern und den Grossteil der grossen multinationalen Schweizer Konzerne.

Der Dachverband nimmt die Interessen von 100’000 Unternehmen aus allen Sektoren wahr, die rund 2 Millionen Angestellte beschäftigen.

Zu den wichtigsten Aufgaben von Economiesuisse gehört es, optimale Bedingungen für die Schweizer Wirtschaft zu schaffen, sei es für die grossen, international tätigen Firmen wie auch für kleine und mittelgrosse Unternehmen (KMU).

Empörte Bevölkerung

Die internen und externen Probleme des Verbandes ans Licht gebracht hatte im letzten März die schmerzvolle Niederlage in der Abstimmung um die Eidgenössische Volksinitiative «gegen die Abzockerei». Mit dieser will der Initiant und Unternehmer Thomas Minder Saläre und Boni von Topkadern begrenzen und die Aktionärsrechte stärken.

Trotz einem Budget von 8 Millionen Franken für die Gegenkampagne schaffte es Economiesuisse nicht, eine Mehrheit gegen die Initiative hinter sich zu scharen und verlor gegen Minder, der praktisch als Einzelkämpfer angetreten war.

Die Führung des Wirtschafts-Dachverbandes hatte katastrophale Konsequenzen an die Wand gemalt, sollte die Initiative angenommen werden, wie etwa die Abwanderung der wichtigsten Schweizer Unternehmen. Sie hatte jedoch die weitverbreitete Empörung über die Exzesse einiger Manager und Banker unterschätzt, die sich auch in Krisenzeiten Millionen zuschanzten, sogar nachdem der Staat ihnen unter die Arme gegriffen hatte.

«Diese Abstimmungs-Niederlage zeigt nur das sichtbare Symptom einer fortlaufenden Distanzierung von Economiesuisse von den wirklichen Problemen der Bevölkerung», sagt Rudolf Strahm, Ökonom und ehemaliger Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP).

«An ihrer Spitze haben sich in letzter Zeit Personen eingefunden, die durch den neoliberalen Geist der 1990er-Jahre geprägt sind: Deregulierung, Liberalisierung, Abbau des Staates. Spätestens seit der Finanzkrise geniesst diese Haltung nicht mehr viel Sympathie in der Bevölkerung.»

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Eingebüsste Glaubwürdigkeit

In den letzten Jahren hat die mächtigste Wirtschaftslobby auch die Unterstützung von zahlreichen Parlamentariern verloren, «beispielsweise, weil sie die Atomindustrie energisch gegen Regierung und Parlamentsmehrheit sowie gegen die boomende Cleantech-Branche verteidigt», so Strahm.

«Oder weil sie sich gegen eine stärkere Regulierung der Banken wehrt, die für eine Krise verantwortlich sind, die der realen Wirtschaft grossen Schaden zugefügt hat und seit Jahren Regierung und Parlament beschäftigt.»

Unzufriedenheit herrscht aber auch innerhalb des Dachverbands. Seit der Krise in der Uhren-, Metall- und Maschinenbauindustrie der 1970er-Jahre hat sich Economiesuisse immer mehr dem Bankensektor und multinationalen Konzernen zugewendet, besonders der Pharmaindustrie. Zu stark, wie einige Mitglieder bemängeln, die sich vernachlässigt fühlen.

Organisationen der Metall- und Maschinenbauindustrie sowie der Schweizerische Baumeisterverband haben schon vor Jahren angedroht, Economiesuisse zu verlassen. Nun droht die Uhrenindustrie mit dem Austritt.

In der Folge des Rücktritts von Präsident Rudolf Wehrli und Direktor Pascal Gentinetta hat Economiesuisse angekündigt, ihre Strategie zu überdenken.

«Wir haben Schwachpunkte in diversen Bereichen aufgedeckt», erklärt Jörg Neef, der die Neuausrichtung des Wirtschaftsverbandes koordiniert.

«Zuallererst muss Economiesuisse wieder näher an ihre Basis gehen, die Verbände, Unternehmen, Handelskammern. Sie muss die Kommunikation mit diesen verstärken und eine einfachere Sprache finden.»

So hätten die Führungsleute des Dachverbandes bereits Gespräche mit Vertretern der Uhrenindustrie eingeleitet, um die kürzlichen Meinungsverschiedenheiten auszuräumen.

«Zudem müssen die Kontakte mit den politischen Parteien verstärkt werden. Der Graben zwischen Wirtschaft und Politik ist zu gross geworden», so Neef.

«Economiesuisse will auch in Zukunft für liberale Ordnung und Marktwirtschaft kämpfen. Doch die Abstimmung über die Minder-Initiative hat gezeigt, dass die Kommunikation verbessert werden muss, um das Zielpublikum zu erreichen.»

Daher müsse der neue Präsident eine wirtschaftliche Führungskraft mit Erfahrung sein, der auch über «einen guten Riecher» für die Politik und ein «gutes Netzwerk in der politischen Welt» verfüge.

Der neue Direktor hingegen müsse ein guter Ökonom sein, mit breiten Kompetenzen im wirtschaftlichen wie auch im politischen Bereich, der auch über «grosse kommunikative Fähigkeiten» verfüge.

Kürzlich hat die Leitung von Economiesuisse gegen die Einführung neuer Massnahmen zum Schutz der Marke Schweiz gekämpft. Massnahmen, welche die Uhrenindustrie begrüsste, damit ihre «Swiss Made»-Produkte auf den internationalen Märkten besser geschützt sind.

Nick Hayek, CEO des Uhrenherstellers Swatch, beschuldigte die Economiesuisse-Führung, sie spreche nur noch die Sprache der Teppichetage und vertrete «eine Wirtschaftselite, die sich weit entfernt von den wahren Problemen der Schweizer Wirtschaft befindet».

Unterschiedliche Interessen

Zugegeben, die Aufgabe von Economiesuisse – die Interessen von über 100 Wirtschafts-Organisationen zu vereinbaren – ist in einer Ära der Öffnung internationaler Märkte immer schwieriger geworden. Die Interessen kleiner und mittelständischer Unternehmen stehen immer öfter in starkem Kontrast zu jenen von Konzernen, die weltweit tätig sind.

«Bis Ende der 1990er-Jahre war es noch möglich, Kompromisse zu finden. Man versuchte, einige Wirtschaftsbereiche zu öffnen, um die Exporte zu fördern, und gleichzeitig andere Sektoren vor zu starker Marktöffnung zu schützen», sagt Bernard Degen, Historiker an der Universität Basel.

«Solche Kompromisse sind mit der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft und der immer neoliberaleren Strategie von Economiesuisse viel schwieriger geworden», so der Experte für Schweizer Wirtschaftsverbände.

«Ungleiche Interessen sind beispielsweise in der Währungspolitik festzustellen: Während die Banken an einem starken Franken interessiert sind, um mehr Kapital anzuziehen, braucht die exportorientierte Industrie einen schwächeren Franken, um gegenüber der internationalen Konkurrenz nicht benachteiligt zu sein.»

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Weniger Arroganz

Seit der Krise dieser Tage stellen sich viele jene Frage, die vor einigen Monaten Nick Hayek in einem Interview formulierte: Braucht die Schweiz Economiesuisse noch?

«Das ist ganz klar eine polemische Frage», sagt Degen. «Es braucht sicher noch grosse Wirtschaftsverbände, um die verschiedenen Interessen der zahlreichen Sektoren zu vereinen, auch wenn das heute viel schwieriger ist als noch vor 50 Jahren. Doch ich denke, dass sich viele nicht fragen, ob es noch einen grossen Verband braucht, sondern vielmehr, ob es noch einen Verband wie Economiesuisse braucht.»

Economiesuisse scheint dies zur Kenntnis genommen zu haben. Anlässlich des Doppelrücktritts von letzter Woche erklärten die verbleibenden Führungskräfte, es sei nötig, «die Strategie zu überdenken» und «die Kommunikation zu überarbeiten», damit der Verband «glaubwürdiger», «näher an der Bevölkerung» und «weniger arrogant» erscheine.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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