Alle in der Schweiz sollen Bürgerdienst leisten – doch ist diese Idee überhaupt legal?
Eine Volksinitiative und ein politischer Vorstoss wollen jeden Schweizer und jede Schweizerin zu einem Bürgerdienst zugunsten von Gesellschaft und Umwelt verpflichten. Dieser Bürgerdienst soll das Milizsystem retten und den Pflegenotstand lösen. Bloss: Das Vorhaben könnte gegen das Zwangsarbeitsverbot im internationalen Recht verstossen.
Ein Schweizer Verein zur Förderung des Milizengagements mit dem Namen «Service.Citoyen.chExterner Link» will im Jahr 2020 eine Volksinitiative lancieren, die jede Schweizerin und jeden Schweizer zu einem Bürgerdienst verpflichtet.
Der Dienst könnte entweder als Militärdienst oder in Form eines gleichwertigen Milizdienstes geleistet werden. Das Parlament würde bestimmen, inwiefern Ausländer sich – ausserhalb der Armee – freiwillig engagieren dürften.
Die Initianten wollen damit das Milizengagement aufwerten, zur Bewältigung gegenwärtiger «kollektiver ökologischer und demografischer Herausforderungen» beitragen sowie «Frauen als vollwertige Bürgerinnen anerkennen».
In der Schweiz sind bisher nämlich nur Schweizer Männer wehrpflichtig. Frauen dürfen auf freiwilliger Basis Militärdienst leisten.
Mit den «demografischen Herausforderungen» ist vor allem der Pflegenotstand gemeint: «Das Gesundheitssystem ist mit ernsthaften Kosten- und Personalherausforderungen konfrontiert», sagt Noémie Roten, Co-Präsidentin von Service Citoyen. Sie verweist auf eine StudieExterner Link, wonach ein Bürgerdienst die Probleme im Bereich Langzeitpflege abmildern könne.
Krise des Milizsystems
In der Schweiz ist es üblich, nebenberuflich und ehrenamtlichExterner Link öffentliche Ämter und Aufgaben zu übernehmen. Auch die Schweizer Armee ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert.
Seit einigen Jahren befindet sich das Milizsystem jedoch in der Krise, weil es an Freiwilligen für politische Ämter, die Feuerwehr und andere Aufgaben mangelt. Auch die Armee hat Personalprobleme: Immer mehr Dienstpflichtige lassen sich in den Zivildienst umteilen oder kurzfristig von Wiederholungskursen dispensieren.
Mehr Arbeitskräfte dank Zwangsdienst
Kürzlich wollte auch ein nationaler Politiker vom Bundesrat wissenExterner Link, ob ein Bürgerdienst ein Mittel wäre, um das Milizsystem zu stärken und neuen gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen. Er beauftragte den Bundesrat unter anderem zu evaluieren, ob im Hinblick auf die Alterung der Bevölkerung mit einem Bürgerdienst das Arbeitskräfteangebot in der Pflege und Betreuung erhöht werden könne.
Der Bundesrat nahm das Postulat an. Ein entsprechender Bericht wird nach Auskunft des Verteidigungsdepartements (VBS) Ende 2020 vorliegen. «Die Frage zur Vereinbarkeit eines Bürgerdienstes mit dem internationalen Völkerrecht wird dabei auch geklärt werden», sagt Lorenz Frischknecht vom VBS auf Anfrage von swissinfo.ch.
Ist der Bürgerdienst Zwangsarbeit?
Die Sache mit dem Bürgerdienst hat nämlich einen Haken. Internationale Menschenrechtsabkommen wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRKExterner Link) oder die UNO-PakteExterner Link sehen klipp und klar vor: Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten. Nicht als Zwangsarbeit gelten Militärdienst und ziviler Ersatzdienst aus Gewissensgründen, Dienstleistungen bei Notständen und Katastrophen sowie Dienstleistungen, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehören.
Nicht als Ausnahme aufgezählt in den Abkommen ist eine allgemeine Dienst- oder Bürgerpflicht mit zivilen Aufgaben, so wie sie die Initianten vorsehen. Eine Studiengruppe zur allgemeinen Dienstpflicht im Auftrag des Bundesrates hat denn auch in einem BerichtExterner Link «bei aller Skepsis» offengelassen, ob und wie eine allgemeine Dienstpflicht mit dem Zwangsarbeitsverbot vereinbar ist.
Dennoch ist der Verein Service Citoyen überzeugt, der Bürgerdienst sei keine Sklaverei oder Zwangsarbeit im Sinne der Abkommen. «Die Bürgerdienstinitiative ist menschenrechtskonform und stellt keine verbotene Zwangs- oder Pflichtarbeit dar», sagt Roten. Der Bürgerdienst bringe mehr Freiheiten, weil zwischen mehr Dienstarten gewählt werden könne.
Länge und Inhalt des Dienstes sind entscheidend
Der emeritierte Rechtsprofessor Rainer J. SchweizerExterner Link, der sich eingehend mit Dienstpflichten auseinandergesetzt hat, ist skeptischer: «Mit einem Bürgerdienst Lücken füllen zu wollen in Bereichen, in denen Manpower fehlt, da habe ich Bedenken.» Unproblematisch wäre laut Schweizer hingegen ein kleineres nebenberufliches Engagement für das Gemeinwohl, ähnlich dem Zivilschutz.
Nicht als Zwangsarbeit gelten gemäss Völkerrecht nämlich Arbeiten und Dienstleistungen, die «zu den üblichen Bürgerpflichten» gehören. «In manchen Berggemeinden können die Dorfbewohner gezwungen werden, Verbauungen gegen den Wildbach zu erstellen, wenn es immer wieder zu Überschwemmungen kommt», erklärt Schweizer. «Das ist ok.»
Nicht in Ordnung sei hingegen, wenn die Arbeitskraft eines Menschen ausgenutzt werde, indem Dienstpflichtige beispielsweise in der Industrie oder im Gastgewerbe eingesetzt würden, wenn dort Arbeitskräfte fehlen. «Oder wenn der Dienst so lange dauert, dass faktisch die Berufswahl-Freiheit eingeschränkt wird», sagt Schweizer.
Begrüssenswert an der Idee des Bürgerdienstes findet Schweizer die völlige Gleichstellung der Geschlechter sowie den möglichen Einbezug von niedergelassenen Ausländerinnen und Ausländern in zivile Aufgaben.
Schlechte Aussichten für Bürgerdienst
Für die Volksinitiative könnte es je nach Auslegung brenzlig werden: Indem die Initianten unumwunden zugeben, mit der Dienstpflicht Personalprobleme unter anderem in der Pflege lösen zu wollen, geraten sie möglicherweise in Konflikt mit dem Zwangsarbeitsverbot, das vor ebensolchen Instrumentalisierungen der Arbeitskraft schützen soll.
Die Bundesversammlung erklärt Volksinitiativen für ungültig, wenn sie zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verletzen. Das Zwangsarbeitsverbot gehört zum zwingenden Völkerrecht.
Allerdings sind Volksinitiativen in der Schweiz äusserst selten für ungültig erklärt worden. Gut möglich also, dass es der Bürgerdienst bis an die Urnen schafft.
Nach Einschätzung von Schweizer dürfte die Initiative beim Schweizer Stimmvolk jedoch kaum Chancen haben. Der Bürgerdienst entspreche nicht der derzeitigen Schweizer Mentalität: «Der heutige Durchschnittsschweizer will vor allem Geld verdienen und für sich und seine Allernächsten sorgen, nicht Dienst an der Allgemeinheit leisten.»
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