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«Merz war in Tripolis eher ein Sarkozy»

Nicht am selben Strick gezogen? Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und der damalige Bundespräsident Hans-Rudolf Merz. Keystone

Rasche und umfassende Reaktion des Aussenministeriums, mangelhafte Koordination und Kooperation im Bundesrat, erfolgreiche Europäisierung des Konflikts: So analysiert Sicherheits-Experte Daniel Möckli das Schweizer Krisenmanagement in der Libyen-Affäre.

Mit Max Göldi ist die zweite Geisel seit Mitte Juni aus Libyen zurück. Doch die Affäre ist noch nicht zu Ende. Ein internationales Schiedsgericht wird die Verhaftung von Gaddafi-Sohn Hannibal Mittel Juli 2008 in Genf letztlich beurteilen.

Auch nach der Rückkehr Göldis hält die Debatte über persönliche Schuldzuweisungen und systembedingte Fehler im Krisenmanagement der Schweizer Regierung an.

Sicherheitsexperte Daniel Möckli von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich kommt in seiner Analyse zu einem insgesamt positiven Fazit. Weshalb, sagt er im Gespräch mit swissinfo.ch.

swissinfo.ch: Was war das Besondere an der Libyenkrise, verglichen mit früheren Krisen?

Daniel Möckli: Es war für die Schweiz eine aussergewöhnliche, sehr schwierige Krise. Es handelte sich nicht um eine Geiselnahme durch eine Rebellengruppe, wie meistens, wenn die Schweiz mit Geiselfragen konfrontiert ist. Es ging darum, dass Libyen als Staat Geiseln nahm, um damit ein Pfand im Streit um die Verhaftung Hannibal Gaddafis in Genf im Sommer 2008 in die Hand zu bekommen.

Die Schweiz sah sich zudem einem Staat gegenüber, der auch mit Mitteln operiert, die sie selber nicht benutzen kann, wie pseudojuristische Massnahmen.

swissinfo.ch: War sich die Schweiz der Art und Weise des Gegenspielers bewusst?

D.M.: Ich glaube schon. Man hat aber zu spät berücksichtigt, dass es im Kern um die Familienehre der Gaddafis ging.

Man hat sehr lange auf diplomatische Mittel zur Lösung gesetzt. Im Nachhinein zeigt sich, dass man zu lange mit dem Premier- und dem Aussenminister verhandelte. Das zentrale Entscheidungszentrum in Libyen ist aber Muammar Gaddafi.

swissinfo.ch: In der Studie haben Sie die Krise in drei Phasen unterteilt: Erstens, die diplomatischen Versuche des Aussenministeriums bis Sommer 2009, zweitens das Krisenmanagement des Bundespräsidenten Hans-Rudolf Merz und dessen Reise nach Libyen und drittens die Vermittlungen der Europäische Union (EU) ab dem Frühjahr 2010. Können Sie dies etwas ausführen?

D.M.: Zur ersten Phase: Das Aussenministerium reagierte sehr schnell und umfassend, da kann man dem EDA keine Vorwürfe machen. Rückblickend wäre aber eine rasche Lösung der Krise vielleicht machbar gewesen, wenn man sich für das wohl unverhältnismässige Vorgehen bei der Verhaftung in Genf entschuldigt hätte.

Die zweite Phase ist offensichtlich charakterisiert durch fehlende Koordination auf Stufe Bundesrat. Die Departemente zogen bei der Planung dieses Krisenmanagements nicht alle am selben Strick. Zudem begannen sie sich öffentlich zu kritisieren, als sich die Reise von Herrn Merz nach Libyen als Fehlschlag erwies.

Die gravierenden Defizite im Krisenmanagement haben hier die Frage einer Staatsleitungsreform in den Vordergrund rücken lassen.

In der dritten Phase hat der Bundesrat erkannt, dass er auch Druckmittel verwenden muss. Dies geschah dann auch via Schengen (Einreisesperren gegen rund 180 hochrangige Libyer für den gesamten Schengenraum, die Red.). Die Europäisierung der Krise war sehr erfolgreich, da sich aufgrund der libyschen Retorsionsmassnahmen gegen die Schengenstaaten die EU in die Konfliktlösung einschaltete.

swissinfo.ch: Wurden die Dimensionen der Krise unterschätzt?

D.M.: Nicht unbedingt in Bern. Möglicherweise unterschätzte aber Genf die Tragweite des Konflikts. Ausgangspunkt war, dass sich Genf für die Art der Festnahme von Gaddafis Sohn nie entschuldigen wollte.

Der Kanton argumentiert sehr legalistisch, er habe kein Recht gebrochen. Dadurch nahm Genf auch eine Eskalation des Konflikts in Kauf. Mit etwas mehr politischem Gespür hätte man die Krise wohl schneller lösen können.

swissinfo.ch: Sie sagen, dass die Befreiung der Geiseln ein Erfolg gewesen sei, die Bewältigung der Krise dagegen Schwächen offenbare. Doch Max Göldi wurde über zwei Jahre im Land festgehalten.

D.M.: Dass Herr Göldi freikam, bevor das Schiedsgericht tagt, ist ein Erfolg für die Schweiz. Dieser ist nicht selbstverständlich, denn Libyen wollte stets zuerst das Urteil des Schiedsgerichts abwarten und erst danach die Klärung der Frage der Schweizer Geiseln in Libyen angehen. Lange wurde in Tripolis überhaupt verneint, dass ein Zusammenhang zwischen der Verhaftung der Schweizer Staatsbürger und dem Vorfall in Genf bestand.

Sicher, zwei Jahre waren für die Geiseln eine viel zu lange Zeit. Wir wissen aber, dass in Libyen vergleichbare Krisen noch viel länger gedauert haben. Alles in allem ist die Schweiz mit einem blauen Auge davongekommen.

swissinfo.ch: Welche Lehren wurden auf der Führungsebene daraus gezogen?

D.M.: Das Führungsdefizit hat teilweise mit Personen zu tun, ist im Kern aber systembedingt. Der Bundesrat ohne weisungsbefugten Regierungschef tut sich immer sehr schwer, Krisen zu bewältigen.

Wir müssen uns deshalb überlegen, wo die Defizite des Schweizer Regierungssystems liegen.

swissinfo.ch: Ist eine Reform des Systems nötig?

D.M.: Ja. Was der Bundesrat jetzt vorschlägt, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch wenn die Amtszeit des Bundespräsidenten auf zwei oder vier Jahre erhöht würde und man noch ein paar Staatssekretäre mehr einsetzte, blieben die Koordinationsprobleme auf Regierungsstufe letztlich bestehen.

Der Bundespräsident müsste mehr Kompetenzen erhalten. Die radikale Version wäre die Abkehr von der heutigen Vielparteien-Regierung hin zum Oppositions-System wie in anderen europäischen Staaten.

Solche Schritte würden das Krisenmanagement effizienter machen. Trotzdem sind auch sie mit grossen Nachteilen behaftet. In einer direkten Demokratie wie der Schweiz würden starke Parteien, die nicht in die Regierung eingebunden sind, permanent mit Volksabstimmungen Opposition betreiben. Dies würde das politische System wohl lähmen. Folglich gibt es kaum eine Alternative zur Vielparteienregierung. Deshalb werden wir sicherlich auch in Zukunft Defizite im Krisenmanagement haben.

swissinfo.ch: Nach der Reise von Bundespräsident Merz hatte man den Eindruck, es gebe im Bereich der Kommunikation ein Problem?

D.M.: Ja. Herr Merz ging mit ungenügender Koordination nach Tripolis. Er unterschrieb dort einen Vertrag, der ziemlich weit weg ist von dem, was die eigentliche Verhandlungsrichtlinie des EDA war. Er hat das quasi als Regierungschef gemacht, eine Funktion, die wir aber in unserem System gar nicht haben. Herr Merz war in Tripolis eher ein Herr Sarkozy als ein Schweizer Bundespräsident. Wenn er die Geiseln nach Hause gebracht hätte, hätte man allerdings kaum Kritik deswegen geübt.

swissinfo.ch: Sie haben die Rolle Genfs erwähnt. Wird die Souveränität des Kantons durch den vereinbarten Vertrag angetastet?

D.M.: Die Irritation Genfs ist teilweise nachvollziehbar. Die Schweiz unterzeichnete einen Vertrag über die Einsetzung eines Schiedsgerichts, das Vorgänge untersuchen soll, die der Hoheit Genfs unterstehen.

Wie gesagt hat aber auch Genf in Bern grosse Irritation ausgelöst. Die föderale Ordnung der Schweiz verkompliziert unsere Aussenpolitik bisweilen beträchtlich.

swissinfo.ch: Wie geht es jetzt weiter?

D.M.: Jetzt wird der Aktionsplan umgesetzt. Für die unrechtmässige Publikation der Polizeifotos von Hannibal Gaddafi in der Genfer Presse hat die Schweiz bereits eine Kompensationszahlung auf ein Sperrkonto überwiesen.

Jetzt wird das Schiedsgericht eingesetzt. Hier geht es um die Beurteilung der Verhaftung in Genf. Auch wird das Schweizer Parlament noch das Krisenmanagement der Regierung untersuchen. Das Thema wird uns noch eine Weile beschäftigen.

Mohamed Cherif, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

Die Krisenbewältigung ist nicht erst seit der gescheiterten Tripolis-Mission des damaligen Bundespräsidenten Hans-Rudolf Merz im letzten Sommer ein Politikum erster Güte.

Parteien haben die Krise instrumentalisiert, indem sie Regierungsmitglieder der politischen Konkurrenz stark kritisieren.

Unmittelbar nach der Rückkehr Max Göldis aus über zweijährigem Zwangsaufenthalt in Libyen wurde bekannt, dass Regierungsmitglieder eine geheime Geiselbefreiung im nordafrikanischen Land geplant hatten.

Die Frage, wer was wann davon wusste und wer einen allfälligen Einsatzbefehl gegeben hatte, ist nach wie vor unbeantwortet.

Antworten soll die aktuelle Untesuchung der Geschäftsprüfungskommissionen des Schweizer Parlaments (GPK) geben. Der Bericht des Kontrollgremiums über das Krisenmanagement des Bundesrates in der Libyenaffäre wurde ursprünglich für nächstes Frühjahr angekündigt.

Im Hinblick auf die Bundesrats-Bestätigungswahlen von kommendem Dezember fordern einzelne Parteien den Bericht jetzt noch in diesem Jahr an.

Er ist Senior Researcher am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich.

Seine Spezialgebiete sind die Schweizer Aussen- und Sicherheitspolitik sowie die Nahostpolitik der EU und der USA.

Möckli ist Herausgeber der monatlich erscheinenden «CSS Analysen zur Sicherheitspolitik».

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