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Micheline Calmy-Rey: «Das schweizerische Konzept der Neutralität war nie statisch»

Micheline Calmy-Rey

Ist die Schweiz im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wirklich neutral? Moskau und souveränistische Kreise in der Schweiz sind der Meinung, dies sei nicht der Fall. Die ehemalige Bundesrätin Micheline Calmy-Rey erklärt in diesem Meinungsbeitrag, warum die Schweizer Neutralität nicht über Bord geworfen wurde.

Am 24. Februar 2022 marschierte Russland in die Ukraine ein. Wir sind schockiert über diese krasse Verletzung der Souveränität eines Staates. Der Westen mobilisierte sich daraufhin, um der Ukraine beim Widerstand gegen die Aggression zu helfen.

Wir möchten, dass die Ukraine gewinnt, da die russische Aggression illegal und nicht zu rechtfertigen ist. Das Anliegen des Westens ist es, der Ukraine zu helfen und sie zu bewaffnen, damit sie Widerstand leisten kann; und ihr zu helfen, verlorene Gebiete zurückzuerobern.

Gleichzeitig geht es darum, einen direkten Konflikt mit Russland zu vermeiden. Heute gebietet es also die Dringlichkeit, die militärische Unterstützung für die Ukraine zu verstärken, ohne einen Krieg mit Russland zu beginnen.

Die Schweiz verurteilt die Aggression, verhängt Wirtschaftssanktionen, nimmt ukrainische Flüchtlinge auf und engagiert sich für den Wiederaufbau des Landes. Sie weigert sich jedoch, direkt oder indirekt militärisches Material in die Ukraine zu exportieren, da sie ein dauerhaft neutraler Staat ist.

Die Schweiz verurteilt die Invasion der Ukraine, prangert eine Verletzung des Völkerrechts an und verhängt Sanktionen. Ist die Schweiz noch neutral?

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Das Fünfte Abkommen der Haager Friedenskonferenz von 1907 listet die Rechte und Pflichten eines neutralen Staates auf. Sich nun fortlaufend zu fragen, was die Neutralität verbietet oder erlaubt, ist von begrenztem Nutzen. Die Neutralitätsregeln gelten nur für Kriegssituationen zwischen Staaten, und selbst dann enthalten sie nur sehr wenige Einschränkungen.

Der neutrale Staat darf sich nicht militärisch an einem Konflikt zwischen anderen Staaten beteiligen. Es ist ihm untersagt, die kriegführenden Parteien mit Kriegsmaterial oder Truppen zu unterstützen.

Dem neutralen Staat ist es auch untersagt, sein Hoheitsgebiet, einschliesslich seines Luftraums, den Krieg führenden Parteien für militärische Zwecke zur Verfügung zu stellen. Er darf keinem Militärbündnis beitreten.

Ausserdem muss der neutrale Staat in der Lage sein, sein Hoheitsgebiet militärisch zu verteidigen, um zu verhindern, dass es von den Kriegsparteien für militärische Zwecke wie Truppentransit oder Errichtung von Militärstützpunkten genutzt wird. Das ist alles.

Nach der Praxis neutraler Staaten und der herrschenden Lehre ist das Neutralitätsrecht grundsätzlich nicht auf Wirtschaftssanktionen anwendbar. Die Schweiz kann sich also an Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union oder einer beliebigen Gruppe von Staaten beteiligen, ohne ihre Neutralität zu verletzen.

Markus Somm, Verleger der Zeitschrift Nebelspalter, schreibt, die Schweiz bestehe gerade daraus, dass sie kaum je zu definieren war:

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L’Identitätskrise n’existe pas

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Das Neutralitätsrecht gilt auch nicht für militärische Massnahmen, die der Sicherheitsrat gemäss UNO-Charta ergreift. Das Neutralitätsrecht hindert neutrale Staaten nicht daran, sich militärischen Sanktionen anzuschliessen, die vom Sicherheitsrat gemäss Kapitel VII der UNO-Charta beschlossen werden – es sei denn, der neutrale Staat selbst legt Grenzen fest, was bei der Schweiz der Fall ist.

Liegt jedoch keine Resolution des UNO-Sicherheitsrats vor, die eine militärische Aktion erlaubt, entspricht die Situation der eines klassischen zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikts. In diesem Fall müssen die Rechte und Pflichten eines neutralen Staates von der Schweiz angewendet werden.

Diese Praxis ist nicht neu: Im Jahr 1990, nach dem Angriff auf Kuwait, verhängt der UNO-Sicherheitsrat Wirtschaftssanktionen gegen den Irak. Der Bundesrat erklärt, dass die autonome Anwendung von Wirtschaftssanktionen mit der Neutralität vereinbar ist, und akzeptiert sie.

Diese Doktrin ändert die Auslegung der Neutralität dahingehend, dass Verstösse gegen das Völkerrecht verurteilenswert sind und dass die anschliessende Verhängung von Sanktionen – europäische oder andere – mit der Neutralität vereinbar ist. Dies ist eine Frage der Kohärenz mit der Aussenpolitik, die sie zu verfolgen gedenkt.

Seitdem hat sich die Eidgenossenschaft im Allgemeinen an Sanktionen beteiligt, die von den Vereinten Nationen oder anderen internationalen Akteuren beschlossen wurden.

In den letzten Jahren übernahm die Schweiz fast automatisch die EU-Sanktionen beispielsweise gegen Belarus, Simbabwe, Syrien und Libyen. Immer wenn der Sicherheitsrat nicht in der Lage war, Sanktionen zu beschliessen, hat sich die Schweiz an den europäischen Sanktionen orientiert.

Im Fall des Krieges in der Ukraine gilt das Neutralitätsrecht. Die Schweizer Regierung verbietet die Ausfuhr von Kriegsmaterial an die Kriegsparteien und den Überflug ihres Luftraums durch Militärflugzeuge der Konfliktparteien. Sie setzt die von der EU beschlossenen Sanktionen um.

Der russische Präsident hat die Schweiz auf die Liste der feindlichen Staaten gesetzt. Einige Schweizer:innen teilen die Meinung von Wladimir Putin und behaupten, dass die Schweiz de facto in einen Krieg mit Russland eingetreten ist. Die Sanktionen kämen einer Kriegserklärung gleich, ebenso wie die Entscheidungen der EU, Grossbritanniens und der USA, Waffen in die Ukraine zu schicken.

Im Zentrum des Neutralitätsrechts steht das Verbot, Konfliktparteien mit Kriegsmaterial oder anderen dem Krieg dienenden Gütern zu beliefern. Diese Verpflichtung bezieht sich nur auf militärisches Material oder die staatliche Waffenproduktion und gilt nur für internationale bewaffnete Konflikte zwischen Staaten, wie es der Fall beim Krieg in der Ukraine ist.

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Die Haager Konventionen erlauben hingegen die Ausfuhr von Militärmaterial aus privater Produktion. Das Problem ist jedoch, dass der neutrale Staat, wenn er solche Exporte erlauben, einschränken oder ganz verbieten würde, alle Kriegsparteien gleich behandeln müsste. Also auch Waffenexporte nach Russland genehmigen. Das Neutralitätsrecht macht keinen Unterschied zwischen direkten und indirekten Waffenexporten.

Die in Abkommen über den Verkauf von Waffen an andere Staaten eingebaute Klausel über die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial verhindert, dass Schweizer Kriegsmaterial in Länder gelangt, in die eine direkte Ausfuhr nach unserem Kriegsmaterialrecht nicht genehmigt werden könnte.

Darüber hinaus legt auch das Bundesgesetz über das Kriegsmaterial ein grundsätzliches Verbot von Ausfuhren in Staaten fest, die in einen internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt sind.

Die Frage der Waffenausfuhren in Staaten, die in einen Krieg verwickelt sind, ist jedoch nur ein Teil des Problems. Der Krieg in der Ukraine ist untypisch für unsere Zeit, denn bewaffnete Konflikte zwischen Staaten sind heute die Ausnahme. Es gibt immer mehr zivile Konflikte, immer mehr Cyberangriffe.

Und wie geht man vor, wenn die Dinge noch komplizierter werden? Wenn Staaten Konflikte ausserhalb ihres Hoheitsgebiets führen? Im Jemen herrscht Bürgerkrieg zwischen den Houti-Rebellen und der Regierung, die von einer Koalition aus zehn Staaten unter der Führung Saudi-Arabiens unterstützt wird.

Die Schweiz exportiert Waffen nach Saudi-Arabien, was nach dem Neutralitätsrecht nicht verboten ist, da es sich im Jemen nicht um einen zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikt handelt. Wie man sieht, ist die Definition von Krieg eine Herausforderung für die Auslegung des Neutralitätsrechts.

Sind Waffenexporte mit unserer humanitären Tradition vereinbar? Der Zyniker würde antworten, dass wir mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und Roten Halbmond (IKRK) eine sehr schweizerische Institution beherbergen und finanzieren, die auf den Schlachtfeldern agiert und die durch Waffen verursachte Unordnung aufräumt.

Aber wenn wir wirklich so neutral und humanitär wären, wie wir es verkünden, wäre es nur logisch, konsequent auf Waffenexporte zu verzichten. Die Schweiz hat sich durch ihre Neutralität freiwillig dazu verpflichtet, niemals einen Krieg zu führen, an einem Krieg teilzunehmen oder Kriegsparteien militärisch zu unterstützen. In diesem Sinne ist die immerwährende Neutralität ein einseitiger Verzicht auf Gewalt.

Die Eidgenossen einigten sich 1647, ein Jahr vor der Unterzeichnung des Westfälischen Friedens, auf den Neutralitätsstatus des Landes. Ihre Botschaft lautete: Wir werden niemanden mehr angreifen; wir werden uns höchstens verteidigen, wenn wir angegriffen werden.

Dies kam einer endgültigen Abkehr von der militärischen Aggression als Instrument der Sicherheitspolitik gleich. Rückblickend kann diese Entscheidung als wahrhaft revolutionär bezeichnet werden in einer Zeit, in der Krieg als legitimes Mittel zur Lösung von Konflikten galt. Die Schweiz konnte ihren Status als neutraler Staat durch zwei Weltkriege aufrechterhalten.

Seitdem hat sich die Neutralität weiterentwickelt, um den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen. Eine aktive Neutralitätspolitik bedeutet, dass sich die Schweiz auf die Seite des Völkerrechts stellt und dass die Schweiz Sanktionen verhängt, wenn das Völkerrecht verletzt wird.

Das schweizerische Konzept der Neutralität war nie statisch. Eine aktive Neutralitätspolitik, wie sie heute praktiziert wird, bedeutet: Die Schweiz steht auf der Seite des Völkerrechts, sie ergreift in einem Krieg nicht Partei für die eine oder andere Seite.

Sie gibt sich den Anschein der Unparteilichkeit, der Neutralität eines Richters, der das Recht anwendet und der sich bei der Gewährleistung seiner Sicherheit eher auf Diplomatie, Multilateralismus und gemeinsame Regeln als auf die Anwendung von Gewalt verlässt.

Die Argumente, welche die Neutralität auf eine Strategie der Isolation gründen, sind gegenüber den Argumenten, welche die internationale Zusammenarbeit betonen, verblasst.

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Dennoch bleibt eine Frage: Reicht die Neutralität, auch wenn sie aktiv ist und im Völkerrecht verankert ist, aus, um unsere Sicherheit zu gewährleisten?

Es ist kein Geheimnis, dass unsere Verteidigungsministerin ein Abkommen über die indirekte Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine ermöglichen wollte und dass es ihr erklärtes Ziel ist, sich der Nato weiter anzunähern. Die geplante Beteiligung am europäischen Raketenabwehrschild «Sky Shield» sollte nur ein Schritt in diese Richtung sein.

Die Schweiz arbeitet im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden mit der Nato zusammen. Diese Zusammenarbeit steht nicht im Widerspruch zur Neutralität. Die Partnerschaft für den Frieden wurde nach dem Ende des Kalten Krieges gegründet und sollte eine Diskussionsplattform für den Frieden sein, mit der Vision, militärische Bedrohungen zu verhindern.

Doch mit dem Krieg in der Ukraine und der Rückkehr zur Machtpolitik hat die Zusammenarbeit mit der Nato eine andere Bedeutung bekommen. Ein Schritt zu weit in diese Richtung würde unser Schicksal an das der Nato binden und automatisch zum Verlust unserer Neutralität führen. Es ist eine echte Wahl, vor der die Schweiz aus sicherheitspolitischer Sicht steht.

Für ein Land wie die Schweiz, das sich in internationalen Institutionen engagiert, deren Einfluss nicht auf Gewalt, sondern auf der Macht des Rechts beruht, auf den gleichen Regeln, die für alle Staaten gelten, ist das Dilemma offenkundig. Abseitsstehen oder mit den anderen zusammenarbeiten? Sich der EU und der Nato annähern oder mit unserer bewaffneten Neutralität als einzigem Trumpf allein zurechtkommen?

Es wäre zwingend notwendig, ein klares Profil in dieser Frage zu entwickeln. Die Position muss klar und unzweideutig sein: entweder logischerweise den Beitritt zur Nato und in der Folge zur EU verteidigen – oder die Neutralität so interpretieren, dass sie mit einer aufgeklärten Rolle innerhalb der Vereinten Nationen vereinbar ist, was ihr ermöglichen würde, ihre Glaubwürdigkeit bei den blockfreien Staaten zu erhöhen und dem internationalen Genf neuen Schwung zu verleihen.

Der Beinahe-Kollaps der Traditionsbank Credit Suisse hat für ein finanzpolitisches Erdbeben gesorgt, das weit über die Schweizer Grenzen hinaus Schlagzeilen gemacht hat. Obwohl das Krisenmanagement der Regierung im Ausland überwiegend positiv aufgenommen wurde, hat die Reputation des Schweizer Finanzplatzes arg gelitten – und mit ihr das gesamte Image der Schweiz. Ein Image, um das es nicht zum Besten steht.

Bereits länger sieht sich das Land mit Kritik konfrontiert: Seit der russischen Invasion in der Ukraine ist die helvetische Neutralität international umstritten. Für Russland ist die Schweiz nicht mehr neutral, die westlichen Partner sehen das Abseitsstehen der Schweiz als opportunistisch und werfen ihr vor, der Ukraine zu schaden. Die von den Schweizer Behörden untersagte Wiederausfuhr von Kriegsgerät an das angegriffene Land mehrt Zweifel, dass die Schweiz überhaupt noch ein zuverlässiger Verbündeter ist. Die Kritik schliesst auch die Sanktionen gegenüber russischen Oligarchen ein, in den Augen vieler internationaler Beobachter:innen geht die Schweiz nicht weit genug.

Neutralität, Bankenplatz, Sanktionspolitik: Die Fragen betreffen nichts weniger als die Identität des Landes. Wir haben verschiedene Schweizer Persönlichkeiten angefragt, wie sie das Renommee der Schweiz in der Welt beurteilen und was jetzt nötig wäre.

Neutralität – hat der Schweizer Weg ausgedient?

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autorin und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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