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Michelle Bachelet: «Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte reicht aus»

Michelle Bachelet
Michelle Bachelet war von 2018 bis 2022 UNO-Menschenrechtskommissarin. Illustration: Helen James / SWI swissinfo.ch

Die Chilenin Michelle Bachelet war bis Sommer 2022 Menschenrechtskommissarin. In ihre Amtszeit fielen viele Herausforderungen, von der Pandemie über Russlands Einmarsch in der Ukraine bis hin zum enormen Druck, den Xinjiang-Bericht zu veröffentlichen.

Michelle Bachelet weiss aus eigener Erfahrung, was Menschenrechtsverletzungen sind. Als junge Frau erlebte sie den Militärputsch von Augusto Pinochet in ihrem Heimatland und die anschliessende Diktatur.

Ihr Vater wurde verhaftet und starb infolge von Folterungen im Gefängnis an einem Herzinfarkt. Später wurden sie und ihre Mutter verhaftet und in die berüchtigte Villa Grimaldi in Santiago gebracht, ein von der chilenischen Geheimpolizei betriebenes Verhörgefängnis.

Im Jahr 2023 hat SWI swissinfo.ch einen Schwerpunkt auf den 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gelegt – diesem bahnbrechenden Grundsatzpapier, das – fun fact – das meistübersetzte Dokument der Welt sein soll.

Der derzeitige UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, beschreibt die Erklärung als «ein transformatives Dokument… als Antwort auf die katastrophalen Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs».

Die Allgemeine Erklärung wurde bereits 1948 verfasst. Trotzdem dauerte es bis 1994, bis mit dem Ecuadorianer José Ayala Lasso der erste UN-Kommissar ernannt wurde. Der Posten als Kommissar gilt seither vielen als der härteste Job der UN.

Für unseren Podcast Inside Geneva-Podcast haben wir sämtliche ehemaligen UNO-Hochkommissare für Menschenrechte interviewt und gefragt, wie sie den Einfluss der Menschenrechtserklärung und ihres Amtes und die Entwicklung der Welt sehen.

Keine der beiden wusste, was mit dem anderen Familienmitglied geschehen war. Bachelet erinnert sich, dass sie sich darauf konzentrierte, «so stark wie möglich zu bleiben, nicht zu versagen und keine Dinge zu gestehen, die anderen Menschen hätten schaden können».

Schliesslich wurden beide freigelassen, aber die Diktatur in Chile dauerte an. Bachelet setzte ihre Arbeit als Ärztin fort, war aber auch weiterhin politisch tätig.

Als endlich wieder Demokratie herrschte, war sie bereit, ihrem Land zu dienen, zunächst als Ministerin, danach zwei Mal als Präsidentin.

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Politische Erfahrung

Warum kam es dann zum Wechsel von der Regierungschefin zu einem hochrangigen UNO-Job? Tatsächlich hatte Bachelet zwischen ihren beiden Amtszeiten als chilenische Präsidentin eine Tätigkeit bei UN Women ausgeübt, so dass ihr die Vereinten Nationen nicht fremd waren.

Heute ist sie davon überzeugt, dass ihre politische Erfahrung für die UNO-Menschenrechtsarbeit sehr nützlich war: «Ich konnte mich in die Entscheidungsträger:innen hineinversetzen. Ich versuchte zu überlegen, welche Argumente sie überzeugen könnten, die Menschenrechte einzuhalten. Ich wollte sie davon überzeugen, dass die Einhaltung der Menschenrechte nicht nur richtig, sondern auch klug ist.»

Druck aus China

Bachelet ist vielleicht vor allem in Erinnerung geblieben, weil sie unter Druck geriet, einen UNO-Bericht über die Lebensbedingungen in der chinesischen Provinz Xinjiang zu veröffentlichen.

Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten hatten behauptet, Peking habe bis zu einer Million Uigurinnen und Uiguren in «Umerziehungslagern» interniert, Kinder von ihren Eltern getrennt und Frauen zur Sterilisation gezwungen.

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Die Publikation dieses Berichts wurde monatelang hinausgeschoben, während sich verschiedene Parteien (darunter China) über seinen Inhalt stritten.

Bachelet erinnert sich, dass sie fast täglich unter Druck gesetzt wurde. Eine Seite bestand auf eine Veröffentlichung, die andere wollte eine Publikation hinauszögern.

Schliesslich veröffentlichte sie den Bericht buchstäblich in letzter Sekunde – am letzten Tag ihrer Amtszeit. Es war ein sehr brisanter UNO-BerichtExterner Link, da er China mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterstellte.

Black lives matter

Während das Thema China Bachelets Amtszeit dominierte, gab es noch ein weiteres Thema, für das sie in Erinnerung bleiben sollte: Ihr Einsatz für die Rechte von Menschen afrikanischer Abstammung.

Die Tötung von George Floyd durch US-Polizeibeamte löste weltweit Empörung aus. In Genf bot die UNO-Menschenrechtskommission den Familien von Opfern, die in ähnlicher Weise getötet worden waren, Unterstützung an.

Dazu gehörte auch eine öffentliche Plattform. So konnte Philonise Floyd, der Bruder von George Floyd, 2020 vor dem Menschenrechtsrat sprechen.

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Bachelet stellte öffentlich eine Verbindung zwischen dem Erbe der Sklaverei und des Kolonialismus und der systematischen Diskriminierung von Menschen afrikanischer Abstammung her. Sie forderte Wiedergutmachung für die «Jahrhunderte der Gewalt und Diskriminierung».

Hat diese Forderung etwas bewirkt oder wird sie etwas bewirken? «Ich weiss es nicht», lautet ihre ehrliche Antwort, aber immerhin sei eine Debatte angestossen worden.

Und was ist mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), die nun 75 Jahre alt wird? Bachelet ist zurückhaltend mit Forderungen, diese Erklärung zu ändern beziehungsweise zu ergänzen, um einem neuen Bewusstsein für Gleichheit und Identität Rechnung zu tragen.

«In der Erklärung ist bereits von allen Menschen die Rede, und damit sind alle Personen gemeint, also alle eingeschlossen. Das reicht aus.»

Die Wichtigkeit dieses Dokuments sei heute genauso aktuell wie einst: «Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist immer noch gültig. Denn sie gibt einen Mindeststandard vor, wie wir zusammenleben können.»

Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob

Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob

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