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UNO-Kommissarin für Menschenrechte: Heikle Gratwanderung in China

Virtuelles Treffen zwischen Michelle Bachelet und dem chinesischen Präsidenten, dargestellt auf einem Bildschirm
Bei einem virtuellen Treffen mit Michelle Bachelet am 25. Mai verteidigte der chinesische Präsident Xi Jinping die Menschenrechtslage in seinem Land und kritisierte Länder, die andere belehren und das Thema politisieren würden. Menschenrechtsberichten zufolge hält China rund eine Million ethnische Uigurinnen und Uiguren gefangen, die Misshandlungen wie Folter, Zwangsarbeit, Vergewaltigung und Zwangssterilisation ausgesetzt sind. Xinhua

Michelle Bachelet, UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, beendete vor kurzem einen sechstägigen Besuch in China. Zuvor waren neue Berichte zu Übergriffen gegen ethnische Uigurinnen und Uiguren in der Region Xinjiang aufgetaucht. Bachelet hatte die mit Peking vereinbarten Bedingungen für ihren Besuch nicht bekanntgegeben. Hat sie mit ihrer Visite etwas erreicht oder ihre eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt?

«Ich empfinde viel Sympathie für die Initiative von Michelle Bachelet, weil sie auch einen positiven Effekt auslösen könnte», sagt der Österreicher Manfred Nowak, der von 2004 bis 2010 Sonderberichterstatter der Vereinten NationenExterner Link über FolterExterner Link war. Er selbst besuchte China im Jahr 2005.

Doch Nowak gibt zugleich zu bedenken: «Ein solcher Besuch unter den gegenwärtigen Umständen und für nur eine Woche ist auch ein höchst riskantes Unterfangen.» Damit spielt er auf die Tatsache an, dass die chinesischen Behörden das Coronavirus möglicherweise als Vorwand nehmen konnten, den Zugang zu bestimmten Gebieten oder Einrichtungen einzuschränken.

Nach Louise Arbour im Jahr 2005 war Bachelet die erste UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, die China einen Besuch abstattete. Ihr Mandat läuft im September aus, und sie hat noch nicht erklärt, ob sie erneut kandidieren wird.

Die Verhandlungen über die China-Reise haben lange gedauert. Die Covid-19-Pandemie hat das Unterfangen verkompliziert. Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International sowie das US-Aussenministerium erklärten, sie hätte der Reise nicht zustimmen dürfen. Die mit Peking ausgehandelten Bedingungen für den Besuch wurden nicht öffentlich gemacht.

Im Vorfeld der Reise hatten viele Menschenrechtsaktivist:innen ihre Bedenken in Bezug auf eine mögliche chinesische Inszenierung dieses Anlasses geäussert, vor allem als Peking unterstrich, dass es sich bei der Mission lediglich um einen «freundschaftlichen Besuch» handle.

In einer PressemitteilungExterner Link forderten über 220 tibetische, uigurische, südmongolische, chinesische sowie aus Hongkong stammende Demokratiegruppen die Hochkommissarin auf, die Reise zu verschieben. Andernfalls riskiere sie, «in ein von der Kommunistischen Partei Chinas angelegtes Propagandaminenfeld zu laufen». Ausländische Journalistinnen und Journalisten wurden von Peking und der UNO daran gehindert, direkt von der Reise zu berichten.

Bachelet stand auch in der Kritik, weil sie einen potenziell brisanten UNO-Bericht über das von uigurische Gebiet Xinjiang nicht veröffentlicht hat. Es war davon ausgegangen worden, dass sie die Publikation nach den Olympischen Winterspielen im Februar 2022 in China nachholen würde. Doch der Bericht liegt immer noch unter Verschluss. Menschenrechtsgruppen fordern, dass sie diesen Bericht jetzt unbedingt öffentlich machen müsse.

«Keine Erwartungen»

Peter Irwin ist Kommunikationschef des in den USA ansässigen Uyghur Human Rights Project (UHRPExterner Link). Gegenüber swissinfo.ch erklärte er noch vor dem Ende des Besuchs von Bachelet, dass seine Organisation keinerlei Erwartungen habe in Bezug auf die Visite: «Es ist absolut klar, dass keine kein Uigurin, kein Uigure in der Region in der Lage ist, offen über die Misshandlungen zu sprechen, denen diese Ethnie ausgesetzt ist.»

Irwin hofft, dass die kürzlich in westlichen Medien dank eines Leaks veröffentlichten chinesischen Polizeiakten («Xinjiang Police Files»Externer Link) – mit erschreckenden Fotos von uigurischen Internierten in Umerziehungslagern – die Situation verändern werden.

Die Hochkommissarin könnte diese Informationen nutzen, um die chinesischen Behörden mit der Unterdrückung zu konfrontieren: «Wenn man nicht in der Lage ist, mit der betroffenen Bevölkerung zu sprechen, ist es das Mindeste, die Regierung angesichts der erdrückenden Beweise auf einen möglichen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusprechen.»

Während einer virtuellen MedienkonferenzExterner Link erklärte Bachelet am 28. Mai, sie habe «offene Gespräche» mit chinesischen Spitzenbeamten geführt. Während ihres zweitägigen Aufenthalts in Xinjiang habe sie unter anderem das Kashgar-Gefängnis und die Kashgar-Experimentalschule, ein ehemaliges Berufsbildungszentrum (VETC), besucht.

China wird vorgeworfen, die Berufsbildungszentren zu nutzen, um einen «kulturellen Völkermord» an Uigurinnen, Uiguren und anderen ethnischen Minderheiten zu begehen.

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Die richtigen Rahmenbedingungen

Aber welche Bedingungen wären ideal für den Besuch einer Menschenrechtsbeauftragten in China? Letztes Jahr appellierten 40 Länder an Peking, Bachelet einen «sofortigen und ungehinderten» Zugang zur Region Xinjiang zu erlauben. Die Schweiz unterzeichnete den Appell ebenfalls.

Gemäss dem ehemaligen UNO-Beauftragten für Folter sind die Rahmenbedingungen für angesetzte Besuche entscheidend für den Erfolg einer Mission, besonders in einem Land wie China.

«Für mich als Ermittler in Sachen Folter bedeutete dies in erster Linie, dass ich jeden Ort mit Inhaftierten – nicht nur Gefängnisse, sondern auch Polizeizellen und Umerziehungslager und ähnliche Einrichtungen – ohne vorherige Ankündigung bei den Behörden besuchen kann», sagt Nowak gegenüber swissinfo.ch.

«Noch wichtiger ist, dass ich mit den Inhaftierten unter vier Augen sprechen kann. Natürlich wurden meine Besuche in China dann ein Stück weit behindert, indem wir etwa stark überwacht wurden.» Aber gleichwohl habe er viele Haftanstalten ohne vorherige Ankündigung besuchen und unter vier Augen mit von ihm ausgewählten Inhaftierten sprechen können.

Als UNO-Folterberichterstatter sagte Nowak im November 2005 im Übrigen einen Besuch im US-Militärgefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba ab. Denn Donald Rumsfeld, der unter Präsident George W. Bush US-Verteidigungsminister war, wollte nicht auf seine Bedingungen eingehen. Dazu gehörte die Erlaubnis für private Treffen mit Häftlingen, die des Terrorismus beschuldigt wurden.

Bei einer Pressekonferenz von Amnesty International in London habe ihn ein Journalist gefragt, warum er im Dezember nicht nach Guantanamo gegangen sei, aber nun nach China wolle, erzählt Nowak gegenüber swissinfo.ch.

«Ich antwortete: Es ist so, weil China meinem Mandat zugestimmt hat – die USA hatten nicht zugestimmt. » Das sei natürlich nicht die beste Werbung für die Bush-Regierung gewesen. «Doch tatsächlich haben sich die Chinesen an die Vorgaben gehalten, und ich habe viele Informationen erhalten.»

In China müsse man allerdings sehr vorsichtig sein, sagt Nowak. «Es braucht ein Begleit-Team mit Sicherheits- und IT-Leuten, die überprüfen können, ob das Hotelzimmer verwanzt ist oder die Telefone abgehört werden. «Wir mussten alle zwei Stunden die SIM-Karte in unseren Telefonen wechseln, weil sie unsere Gespräche abhörten!).»

Man brauche auch Leute, «die natürlich richtig gut Chinesisch sprechen, aber auch die uigurische Szene kennen, weil ansonsten falsche Identitäten angeben werden».

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«Keine investigative Untersuchung»

Bachelet erklärte an der erwähnten Medienkonferenz im Weiteren, mit ihrem Besuch sei nicht die Absicht verbunden gewesen, einen Untersuchungsbericht zu erstellen: «Offizielle Besuche einer Hochkommissarin sind von Natur aus sehr profiliert und daher nicht geeignet für eine detaillierte, methodische und diskrete investigative Arbeit.»

Der Besuch habe eine Gelegenheit zu direkten Gesprächen mit Chinas höchsten Führungspersönlichkeiten über Menschenrechte gegeben, «(…) mit dem Ziel, China bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen gemäss den internationalen Menschenrechtsnormen zu unterstützen».

Nowak weist darauf hin, dass Bachelet als ehemalige Präsidentin Chiles eher eine Diplomatin als eine Ermittlerin sei. Die Aufnahme eines Dialogs zu Menschenrechtsfragen mit China auf höchster Ebene könne auch zu Verbesserungen und einer möglichen politischen Deeskalation führen. Dies sei gerade angesichts wachsender Spannungen wichtig, vor allem wegen der Situation in Taiwan, Hongkong, Xinjiang und der Ukraine.

Nowak ist der Meinung, dass das beste Szenario natürlich eine Verbesserung der Situation der Uigurinnen und Uiguren in China wäre. Aber Bachelet könnte womöglich auch Zugeständnisse bei langfristigen UNO-Zielen wie der Ratifizierung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische RechteExterner Link durch China und der Abschaffung der Todesstrafe erreichen.

Illustration Nations unies

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Wie geht es weiter?

Bachelet erklärte gegenüber den Medien, sie habe diese Themen bei ihrem Besuch angesprochen, genauso wie die Menschenrechtsprobleme in Xinjiang, Hongkong und Tibet.

Sie kündigte ausserdem an, dass die chinesische Regierung sich bereit erklärt habe, eine Arbeitsgruppe einzurichten, «die den inhaltlichen Austausch und die Zusammenarbeit zwischen meinem Amt und der Regierung durch Treffen in Peking und in Genf sowie durch virtuelle Treffen erleichtern soll». Dies sei besonders wichtig, da das Hochkommissariat in China nicht vor Ort mit einer eigenen Niederlassung vertreten sei.

Vielleicht wird der Besuch von Michelle Bachelet also positive Folgen haben und zu gewissen Ergebnissen führen. Zweifellos wird es aber Zeit brauchen. Sophie Richardson, zuständig für China bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights WatchExterner Link, bleibt skeptisch. In einem Tweet schrieb sie: «Arbeitsgruppe zur ’substanziellen Zusammenarbeit› zwischen der UNO-Menschenrechtsorganisation und der chinesischen Regierung? Spiel-Satz-Match für Xi (chinesischer Präsident Xi Jinping).»

(Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob)

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