Setzt die Schweiz das Dublin-Abkommen zu rigoros um?
Die Schweiz schickt viele Asylsuchende nach Italien zurück, obwohl diese dort nie registriert wurden. Das geht aus einer statistischen Untersuchung von swissinfo.ch hervor. Die grafische Analyse belegt die harte Anwendung des Dublin-Abkommens durch die Schweiz.
«Die Schlepper sagten mir: ‹Wenn Du Dir die Fingerabdrücke in Italien nicht nehmen lässt, kannst Du weiter Richtung Norden reisen.› Ich wollte in die Schweiz, weil dort mein Bruder mit seiner Familie lebt», erzählt Semere*, ein etwas über 20-jähriger Flüchtling aus Eritrea.
«Deshalb bin ich abgehauen, sobald ich in Sizilien festen Boden unter meinen Füssen hatte. Ich nahm den Zug bis Chiasso und beantragte Asyl. Ich dachte, ich hätte alles ‹richtig› gemacht, stattdessen teilten mir die Behörden ein paar Monate später mit, ich müsse nach Italien zurückkehren.»
Eurodac erlaubt EU- und EFTA-Ländern, Asylsuchende zu identifizieren. Anhand von Fingerabdrücken können die Migrationsbehörden feststellen, ob eine ausländische Person bereits in einem anderen Staat des Dublin-Abkommens ein Asylgesuch gestellt hat oder sich illegal auf dem Territorium dieser Staaten befindet.
Semere ist kein Einzelfall: Die Schweiz will jedes Jahr einige Tausend Migranten nach Italien überstellen. Das ist nichts Neues: Tatsächlich sieht das Dublin-Abkommen vor, dass Asylgesuche vom ersten europäischen Land geprüft werden, in dem die betroffenen Personen angekommen oder gelandet sind. Geografisch gesehen sind das meistens Italien und Griechenland.
Erstaunlich ist aber, dass die grosse Mehrheit der Fälle, welche die Schweiz nach Italien überführen wollte, Migranten waren, die dort nie registriert worden waren. Mit anderen Worten: Ihre Fingerabdrücke fehlten in der europäischen Datenbank Eurodac.
Die Strategie der Schweiz in den letzten Jahren ist einmalig, zumindest in diesem Ausmass. Die folgende Grafik zeigt, dass 2014 weniger als 30% der schweizerischen Überführungs-Gesuche auf Eurodac-Daten beruhten. Im Vergleich zu 70% bei Ländern wie Österreich und Deutschland.
Legale, aber wenig solidarische Praxis
Die Schweiz scheint ihre Praxis ab 2012 verschärft zu haben, nachdem der Arabische Frühling eine grosse Einwanderungswelle nach Italien gebracht hatte. Damals wurden die italienischen Behörden bezichtigt, die Flüchtlinge nicht zu registrieren und ihnen so die Reise Richtung Norden zu vereinfachen. Ging die Schweiz deshalb zum Gegenangriff über?
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) will darauf nur schriftlich antworten. «Die Schweiz wendet die Dublin-Norm konsequent an», heisst es. Und in dieser Hinsicht sei keine Richtlinie erteilt worden. Fehlten Daten bei Eurodac zu einer Person, könnten sich die Behörden auf andere «kohärente, nachprüfbare und genügend detaillierte» Indizien stützen, so das SEM weiter.
Das Abkommen von Dublin erlaubt tatsächlich, einen Migranten in das so genannte Erstland zu überführen, auch wenn er nicht registriert wurde. Doch es ist am betroffenen Staat, zu beweisen, dass der Asylsuchende sich zuvor in einem anderen Land aufgehalten hatte, beispielsweise anhand eines Bahnbillets, eines Kassenzettels oder der eigenen Aussage des Asylsuchenden.
Etienne Piguet, Professor für Geografie an der Universität Neuenburg, zeigt sich von der Schweizer Strategie wenig überrascht, von deren Ausmass hingegen schon. «Es beweist die Lücken Dublins und die fehlende Solidarität zwischen den Ländern Europas.»
Kategorischer prangert Denise Graf, Juristin bei Amnesty International, das Verhalten der Schweiz an. Das Land nutze Dublin als Abschreckung, besonders gegenüber gewissen Gruppen von Migranten wie etwa Eritreern. Mehrere von swissinfo.ch kontaktierte Nichtregierungs-Organisationen (NGO) bestätigten, sie hätten regelmässig mit Fällen von Überstellungen von Menschen zu tun, die nicht registriert gewesen seien. Sie seien sehr überrascht gewesen, hätten aber gegen die Unnachgiebigkeit der Schweiz nichts unternehmen können.
Die Schweiz ist in Europa bekannt für ihre strikte Anwendung des Dublin-Abkommens, von dem sie oft profitiert. In den letzten Jahren lag sie unter den europäischen Ländern mit der höchsten Anzahl von Anträgen zur Überstellung von Migranten hinter Deutschland an zweiter Stelle.
Doch das von Bundeskanzlerin Angela Merkel regierte Land hat 2015 über eine Million Asylanträge erhalten, 25 Mal mehr als die Schweiz (etwa 40’000), während das Verhältnis der Bevölkerungszahl zwischen den beiden Ländern zehn zu eins beträgt (80 Millionen in Deutschland, 8 Millionen in der Schweiz).
Keine Fingerabdrücke? Italien sagt «Nein»
Und wie reagiert Italien auf die schweizerische Strategie? Was die entsprechenden Ministerien oder Abteilungen hinter den Kulissen sagen, ist nicht bekannt. Die Statistiken zeigen aber eine mögliche Wechselbeziehung: So haben die negativen Bescheide aus Italien stark zugenommen, im Gleichzug mit jenen Schweizer Überstellungs-Gesuchen, die nicht auf Eurodac-Daten basieren. Da Fingerabdrücke fehlen, ist Rom wahrscheinlich der Meinung, Bern habe keine ausreichenden Beweise gesammelt, womit es sein Veto zu den Anträgen begründen kann.
Trotzdem ist Schweiz «Gewinnerin»…
Doch auch wenn Italien in erster Instanz zahlreiche Überstellungs-Anträge ablehnt, kommt die Schweiz trotzdem unter die Länder mit den höchsten Zahlen an effektiv durchgeführten Überstellungen von Migranten. Der Grund ist einfach: Von Anfragen überlastet, «vergisst» Rom oft, auf Beschwerden Berns zu reagieren, und gibt so quasi stillschweigendes Einverständnis.
…und wird immer unattraktiver
Ob freiwillig abschreckend oder nicht, die rigorose Anwendung von Dublin zeigt auf jeden Fall ihre Wirkung. Während die Schweiz während Jahren zu den beliebtesten Asylländern gehörte, gilt sie heute für viele nur noch als Transitland auf der Reise nach Nordeuropa.
«Die Migranten wissen, dass die Schweiz das Dublin-Abkommen und die Überstellungen konsequent anwendet», sagte SEM-Chef Mario Gattiker gegenüber der Tageszeitung La Liberté.
So hat in der Schweiz – auch dank der Schliessung der Balkan-Route und Rückweisungen an der Südgrenze (wie Amnesty International im jüngsten JahresberichtExterner Link kritisierte) – 2016 die Anzahl der Asylgesuche um 31% auf 27’207 abgenommen. Mehr noch: Durch die Schaffung so genannter Hotspots in Italien konnten letztes Jahr fast alle auf dem Stiefel gelandeten oder angekommenen Migranten registriert werden. Laut Gattiker waren es 90%, im Vergleich zu 15% im Jahr zuvor!
Für Flüchtlinge wird es also noch schwieriger, eine Überstellung zu verhindern, zumindest aus jenen Ländern, die eine strenge Auslegung der Dublin-Regeln betreiben. Auch deshalb tauchte in der Schweiz letztes Jahr eine rekordhohe Zahl von Asylsuchenden (etwa 8000) aus Asylzentren unter, um sich vermutlich nach Frankreich oder Deutschland abzusetzen.
Für die Schweiz hingegen sind die Dublin-Überstellungen noch einfacher geworden: 2016 überstellte sie 3570 Personen, während es 2015 noch 2461 waren.
Was Semere betrifft, wurde er nach langem Hin und Her im Frühling 2015 nach Italien überstellt, wo er heute noch auf eine Antwort auf sein Asylgesuch wartet.
* Name der Redaktion bekannt
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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