Mindestlohn nach klarer Abfuhr vom Tisch
Im Unterschied zu einer Mehrheit der Länder in Europa will die Schweiz nichts von einem gesetzlich verankerten und landesweit gültigen Mindestlohn wissen: Das Begehren der Gewerkschaften wurde mit 76,3% Nein-Stimmen wuchtig abgelehnt.
22 Franken pro Stunde: Für weniger Lohn sollte in der Schweiz laut dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) niemand mehr arbeiten. Bei 42 Stunden pro Woche ergäbe das einen Monatslohn von 4000 Franken. Doch davon wollte die Mehrheit der Stimmenden in der Schweiz gar nichts wissen: Rund 2’209’000 Nein-Stimmen standen lediglich 688’000 Ja-Stimmen gegenüber.
Die Stimmbeteiligung betrug knapp 56%. Das stellt denselben hohen Wert wie am 9. Februar dar, als das Schweizer Stimmvolk hauchdünn Ja sagte zur Begrenzung der Zuwanderung.
Kein Graben
Das Nein zur Mindestlohn-Initiative war flächendeckend. Sogar in den Kantonen Neuenburg und Jura, die 2011 und 2013 je für einen kantonalen Mindestlohn gestimmt hatten, legten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mehrheitlich ein Nein in die Urne. Die Verteilung der Ja- und Nein-Stimmen verlief entlang des klassischen Links-Rechts-Grabens.
Auch die Kantone Genf und Waadt, die beide bereits im Jahr 2011 einen kantonalen Mindestlohn abgelehnt hatten, bestätigten ihr Nein. Ein doppeltes Nein zum Mindestlohn legten die Walliserinnen und Walliser in die Urne (siehe Extra).
In über der Hälfte der Kantone lag der Nein-Stimmenanteil bei über 80%. Am höchsten lag er in den Kantonen Appenzell Innerrhoden, Nid- und Obwalden sowie Schwyz, die das Ansinnen der Gewerkschaften mit über 86% ablehnten. Am meisten Zustimmung fand die Mindestlohn-Initiative in Basel-Stadt, obwohl auch hier 62,5% ein Nein in die Urne legten.
Spitze bei Löhnen und Lebenshaltungskosten
Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns wollten die Gewerkschaften und die politische Linke folgende Ziele erreichen: Verminderung der Armut und des Lohngefälles zwischen Männern und Frauen sowie längere Spiesse im Kampf gegen Lohndumping.
Vom Mindestlohn hätten in der Schweiz laut den Initianten 330’000 Personen profitiert, zwei Drittel davon Frauen.
Gegner der Initiative der Gewerkschaften hatten im Abstimmungskampf auch darauf hingewiesen, dass ein Mindestlohn von 4000 Franken pro Monat im internationalen Vergleich von Mindestlöhnen einen Spitzenwert darstellen würde.
Die Befürworter konterten mit dem Argument, dass die Schweiz nicht nur weltweit eines der höchsten Niveaus bezüglich Löhnen aufweise, sondern auch betreffend Lebenshaltungskosten.
Mindestlöhne international «en vogue»
Heute haben 21 der 28 EU-Mitgliedsländer einen gesetzlichen Mindestlohn festgesetzt. In Deutschland, Italien und den skandinavischen Ländern ist die Mehrheit der Arbeitnehmenden durch kollektive Gesamtarbeitsverträge geschützt, die auch Bestimmungen über die Löhne enthalten.
In der Schweiz dagegen arbeitet rund die Hälfte der Beschäftigten in Branchen ohne kollektive Gesamtarbeitsverträge.
Im vergangenen November ist das Traktandum Mindestlohn nun auch in Deutschland auf die politische Agenda gerückt: Bundeskanzlerin Angela Merkel musste die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns ankünden – dies als Konzession an ihre sozialdemokratischen Regierungspartner.
In den USA kündigte Präsident Barack Obama an, den Minimallohn um rund 40% auf 10,10 Dollar anzuheben. Ob der Vorschlag im Kongress eine Mehrheit findet, ist aber ungewiss. Mitte Januar sprach sich auch der britische Budget-Minister George Osborne für eine Erhöhung des minimalen Stundenlohns von 11% aus, um diesen auf das Niveau von vor der Krise anzuheben. China hat den Minimallohn im letzten Jahr sogar um 18% erhöht.
Der Kanton Wallis hat am Sonntag nicht nur den nationalen Mindestlohn von 4000 Franken abgelehnt, sondern auch eine kantonale Lohnuntergrenze von 3500 Franken. Das Stimmvolk verwarf eine kantonale Volksinitiative der Linksallianz mit 80,7% Nein-Stimmen (100’221 Nein zu 24’024 Ja). Die Stimmbeteiligung lag bei 61,4%.
Die nationale Mindestlohn-Initiative des Gewerkschaftsbundes für einen Mindestlohn von 4000 Franken wurde im Wallis mit 82,0% Nein-Anteil abgelehnt.
Mit der Walliser Mindestlohn-Vorlage hätten Branchen mit Gesamtarbeitsvertrag den Mindestlohn auch auf 3000 Franken senken können. Auch dieses Zugeständnis an die Weinbranche überzeugte die Walliser Stimmberechtigten nicht.
Damit bleiben Neuenburg und Jura die beiden einzigen Kantone, die kantonale Mindestlöhne angenommen haben. In beiden Westschweizer Kantonen wurde bei den Abstimmungen die Höhe des Mindestlohnes nicht festgelegt. Die Einführung steht noch aus
Mindestlöhne für Rechte vom Tisch
Auf Siegerseite, sprich bei den bürgerlichen Parteien und der Wirtschaft, wurde das klare Verdikt mit grosser Genugtuung aufgenommen.
Volkswirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann zeigte sich zufrieden mit dem Ausgang. «Der Bundesrat nimmt das klare Verdikt mit Genugtuung zur Kenntnis. Es ist ein starkes Zeichen zugunsten des Werk-, Denk- und Finanzplatzes Schweiz, des Schweizerischen Arbeitsmarktes und
ein starkes Zeichen für die gelebte Sozialpartnerschaft.» Eine Annahme hätte die Streichung von Stellen begünstigt, vor allem in den Randregionen, so der Bundesrat.
Seitens der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), der auch Schneider-Ammann angehört, äusserte sich Ruedi Noser, Nationalrat und Mitglied des Nein-Komitees. Das Ergebnis sei eine klare Lektion für die Gewerkschaften, dass das Stimmvolk bei der sozialen Partnerschaft keine staatliche Einmischung dulde. Der Zürcher sprach von einer «Ohrfeige für die Gewerkschaften». Dass die Zustimmung bei einem solch wichtigen Thema so gering ausgefallen sei, sollte den Gewerkschaften zu denken geben.
Christophe Darbellay, Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), sprach von einem «Vernunftvotum» der Stimmbürger. «Die Initiative war vor allem für jene negativ, die sie beschützen wollte», so Darbellay. Die Linke und die Gewerkschaften müssten nun endlich zur Kenntnis nehmen, dass die Schweiz ein Land ist, in dem die Rechte der Arbeitskräfte gut verankert seien.
Für Jean-François Rime, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbandes, ist das Nein zur Mindestlohninitiative ebenfalls der Beweis dafür, dass das Volk immer noch für die sozialen Partnerschaft einstehe.
Der Wirtschaftsdachverband economiesuisse sieht die klare Ablehnung der Mindestlohn-Initiative als deutliches Zeichen dafür, dass die Stimmbevölkerung keine staatlichen Eingriffe in den Arbeitsmarkt toleriere. Es sei sinnvoller, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber selbst Lohnverhandlungen führten, sagte Präsident Heinz Karrer.
Auch der Industrieverband Swissmem, der Schweizerischer Baumeisterverband sowie GastroSuisse, der Verband für Hotellerie und Restauration in der Schweiz, äusserten angesichts der deutlichen Ablehnung der Mindestlohn-Initiative grosse Zufriedenheit.
Zufrieden zeigten sich auch der Schweizer Bauernverband und die Gemüseproduzenten. Die mit einem Mindestlohn verbundenen Mehrkosten hätten die einheimischen Bauernfamilien nicht verkraften können, hiess es. Dies hätte laut der Bauernorganisation vor allem für jene gegolten, die zahlreiche Arbeitskräfte beschäftigen.
AKW bleibt am Netz
Das Kernkraftwerk Mühleberg muss nicht sofort abgeschaltet werden. Das Berner Stimmvolk hat die Initiative «Mühleberg vom Netz» mit fast 64% Nein-Stimmen deutlich verworfen.
Der Stromkonzern BKW hatte letzten Herbst angekündigt, den Reaktor 2019 stilllzulegen. Die Initianten hielten an der Forderung einer raschen Abschaltung fest.
Lavaux
Das Weinbaugebiet Lavaux am Genfersee soll nicht unter absoluten Schutz gestellt werden – gewisse Bauprojekte sollen möglich bleiben. Das Waadtländer Stimmvolk lehnte die 3. Initiative zur Rettung des Lavaux von Umweltschützer Franz Weber wuchtig ab und hiess mit 68,47% Ja-Stimmen den Gegenvorschlag der Regierung gut.
Rüebli statt Karotten
In Aargauer Kindergärten darf künftig nur noch Mundart gesprochen werden. 55% der Stimmenden des Kantons sagten Ja zur Volksinitiative «Ja für Mundart im Kindergarten» der Schweizer Demokraten (SD). Das Anliegen wird nun im aargauischen Schulgesetz verankert.
Steueramnestie:
Tessinerinnen und Tessiner können ihr Schwarzgeld kostengünstig legalisieren. Fast 53% der Stimmenden hiessen die Regierungspläne zu einer kantonalen Steueramnestie gut.
Neues Stipendiengesetz:
In Luzern erhalten künftig weniger Studenten ein Stipendium oder ein Darlehen, dafür bekommt der Einzelne mehr Geld. Neu unterstützt der Kanton den Zugang zu privaten Ausbildungszuschüssen. Das Stimmvolk des Kantons hat das neue Stipendiengesetz mit 70,3% der Stimmen angenommen.
Kirchensteuer:
Unternehmen im Kanton Zürich müssen auch in Zukunft Kirchensteuern zahlen. Das Stimmvolk hat die Volksinitiative «Weniger Steuern fürs Gewerbe» mit 71,8% Nein-Stimmen abgelehnt.
«Viel Bewegung in Lohndiskussion gebracht»
Auf der Verliererseite gaben sich die Gewerkschaften und die politische Linke trotz der klaren Niederlage kämpferisch.
SGP-Präsident Paul Rechsteiner räumte den politischen Misserfolg ein, hob aber hervor, dass die Kampagne trotzdem positive Folgen gezeigt habe. «Die Diskussion um ein Lohnniveau von 4000 Franken führte zu viel Bewegung in einzelnen Branchen und Betrieben», sagte er.
Der St. Galler Nationalrat der sozialdemokratischen Partei (SP) kündigte weitere Lohn-Kampagnen an, da es nach wie vor Branchen mit Problemen betreffend Gesamtarbeitsvertrag gebe. Rechsteiner nannte etwa den Detailhandel oder die Callcenter. Konkret solle die GAV-Abdeckung in der Schweiz auf 60 Prozent gesteigert werden. Das Augenmerk liegt laut Rechsteiner namentlich auf den Frauenlöhnen.
«Die Leute wollen, dass über Gesamtarbeitsverträge gute Löhne vorgegeben werden», sagte SGB-Chefökonom Daniel Lampart. Er habe während des Abstimmungskampfs kaum Leute getroffen, die gegen Löhne seien, die zum Leben reichten.
Bei Travail.Suisse, dem unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, hiess es, dass die Angstmacherei der Gegner und die millionenschwere Kampagne der Wirtschaft offenbar bei der Mehrheit der Stimmbevölkerung Wirkung gezeigt hätten.
Die Frauen der sozialdemokratischen Partei SP bezeichneten die Ablehnung als «Ohrfeige für die Frauen». Ein gesetzlicher Mindestlohn für alle «wäre endlich ein konkreter Schritt hin zur Lohngleichheit gewesen». Sie forderten den Bund auf, nun unverzüglich Massnahmen zu ergreifen, um endlich die in der Verfassung festgeschriebene Lohngleichheit zu erreichen.
Enttäuschung herrschte auch bei der Gewerkschaft Unia. «Die Chance, den Skandal der vielen Tieflöhne in der reichen Schweiz zu beseitigen und dem Lohndumping einen Riegel zu schieben, wurde verpasst», hiess es. Den Gewerkschaften sei es aber dank der Initiative gelungen, 4000 Franken als Massstab für einen fairen Mindestlohn zu setzen.
Ende eines Zyklus
Das jüngste Votum markiert das Ende einer Reihe von drei Initiativen, die alle auf einen Abbau der Lohnungleichheiten abzielten. Im März 2013 nahm der Souverän die so genannte Abzocker-Initiative an. Mit ihr soll die Gier der Manager nach immer höheren Boni und Lohnzusätzen eingebremst werden.
Eine Absage erteilten die Stimmbürger im vergangenen November der «1:12-Initiative für gerechte Löhne». 65% sagten Nein dazu, dass in den Unternehmen das höchste Einkommen maximal das Zwölffache des niedrigsten Gehaltes hätte betragen dürfen.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch