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Entwicklungshilfe als «Hobby» – wie nachhaltig ist das?

Menschengruppe inmitten eines Dorfes
Freiwillige des Vereins "Santé-Burkina Suisse" vor Ort. Alexander Melliger

Immer mehr Privatpersonen gründen Mini-NGOs, um Menschen im Ausland zu helfen. Diese Form der Direkthilfe hat viele Vorteile. Warum die etablierte Entwicklungshilfe trotzdem die Nase rümpft.

Die beiden Schweizer Dagmar Nüsser und Michael Beismann reisten 2009 für eine Trekking-Tour in den Himalaya Nepals. Zufällig begegneten sie in Kathmandu einem Schulleiter, der sie spontan in sein Dorf Betini einlud. Das Paar war beeindruckt von der Dorfschule und spendete den rund 100 Schülerinnen und Schülern Geld für neue Schulkleider. Das war der Anfang einer unterstützenden Freundschaft, die bis heute andauert.

Zusammen mit einem anderen Schweizer, Werner Stahel, der ebenfalls Freunde in Nepal hat, gründeten die drei vor elf Jahren einen VereinExterner Link («Nepal – Entwicklung für Alle», NEfA) zur Förderung der Bildungsmöglichkeiten in Kindergarten, Schule und Bio-Landwirtschaft in Betini und Gatlang.  

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Durch die Freundschaft mit dem Schulleiter gelangt die Hilfe direkt vor Ort. Im Unterschied zu etablierten Hilfswerken fliesst kein Geld in Personal, Administration oder Werbung. Die Spenden stammen mehrheitlich aus dem Freundes- und Bekanntenkreis der Vereinsgründer.

«Die Kontakte sind auch für uns bereichernd», sagt Werner Stahel zu seinem Engagement. «Als Touristen fühlten wir uns ab und zu deplatziert. Als ‹Helfer› nehmen wir Anteil am Leben der Menschen.»

Schulkinder im Hintergrund das Schulhaus
Schulkinder vor dem Schulhaus in Betini, Nepal. Werner Stahel / NEfA

Kontakte vor Ort

Ein ähnliches Beispiel: Exil-Syrer in der Schweiz gründeten den Verein SyriAidExterner Link, der zunächst Transporte von HilfsgüternExterner Link in das Bürgerkriegsland organisierte. Der Verein unterstützt auch eine Schule, das Spital Afrin und einzelne Familien finanziell – zum Beispiel indem er medizinische Operationen bezahlt. Da die Transporte sehr aufwändig und teuer sind, will sich der Verein stärker auf Projekte vor Ort konzentrieren und sogar Jobs für Einheimische schaffen.

Der kleine Verein ist dort präsent, wo ausländische Akteure sich zurückziehen. «Die Deza beispielsweise will nur in syrischen Regionen tätig sein, die unter Kontrolle der offiziellen Regierung Assads stehen», sagt Vereinspräsident Ashti Amir. Das verstehe er, aber die Bevölkerung habe trotzdem Hilfe nötig. Dank persönlichen Kontakten können die Exil-Syrer direkt vor Ort tätig sein. «Wenn ich in der Schweiz bin, schicke ich manchmal meinen Bruder oder Cousin vorbei, um nach dem Rechten zu sehen», so Amir.

Mann und Junge in zerstörter Strasse
2013 fuhren mehrere Vorstandsmitglieder von SyriAid und Freiwillige drei Transportautos mit Medikamenten und Spitalbedarf in fünf Tagen nach Aleppo. Auf dem Bild sieht man Vereinspräsident Ashti Amir mit einem Jungen am Tag nach einem Bombenangriff in der Altstadt von Aleppo. Manu Friedrich

Kleinst-NGOs liegen im Trend

Diese Vereine sind keine Einzelfälle. «Wir beobachten seit geraumer Zeit eine zunehmende Zahl von Kleinst-NGOs, wir nennen sie Pop-up NGOs», sagt Fritz Brugger vom NADEL Center for Development and Cooperation der ETH Zürich. «Das ist offensichtlich das Ergebnis davon, dass viele Leute reisen, die Kommunikation und das Überweisen von Geld einfacher geworden sind. Aus Betroffenheit oder auch aus guten Begegnungen heraus wird dann – oft mit viel Enthusiasmus – eine Initiative lanciert.»

Vorteile gibt es viele, wie auch Brugger bestätigt: «Die Hilfe ist sehr direkt, man ist nahe bei den Leuten, es gibt kaum Verwaltungskosten und die Identifikation ist hoch.» So besuchten beispielsweise einige Interessierte des Vereins «Nepal – Entwicklung für Alle» persönlich die Projekte in Betini und Gatlang, um die Menschen dort zu erleben. Umgekehrt lud der Verein Nepalesen und Nepalesinnen in die Schweiz ein, «damit sie unsere Lebensweise, unsere hohen Lebenskosten aber auch unsere finanziellen Möglichkeiten für Nepal verstehen können», wie Vereinsmitglied Werner Stahel sagt.

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Doch Entwicklungsspezialist Brugger sagt auch: «Ich habe etwas gemischte Gefühle der ‹Entwicklungshilfe als Hobby› gegenüber.» Es gebe den Nachteil, dass die Hilfe sehr abhängig von der helfenden Person und ihrer Kontaktperson vor Ort sei.

Das sehen auch die freiwilligen Helfer ein. «Die Partner vor Ort sind das A und O und wenn wir oder sie ‹wegfallen›, dann ist das Projekt in Frage gestellt», bestätigt Werner Stahel. Zumal der Arbeitsaufwand gross sei, so dass in der Hauptsache Pensionierte die Vereinsarbeit leisteten. «Was bleibt, ist das Geleistete.» Zudem bestehe in ihrem Fall das Ziel, die Hilfe ihres Vereins im Dorf überflüssig zu machen, da sich die Menschen dort in naher Zukunft selbst zu organisieren wüssten.

So ein Verein ist viel Arbeit

Dass private Initiativen nicht zwingend nach kurzer Zeit eingehen, zeigt das Beispiel des Vereins «Santé-Burkina SuisseExterner Link«, der seit 20 Jahren in Burkina Faso Direkthilfe leistet.

Die Psychiaterin Regina Patrizzi war auf Reisen so erschüttert von der Armut, dass sie sich fortan nebenberuflich in der Entwicklungshilfe engagierte. 2001 gründete sie zusammen mit ihrem Mann und Freunden den Verein Santé-Burkina Suisse.

Auch an diesen Verein spenden hauptsächlich Freunde und Bekannte der Gründer, die ausschliesslich ehrenamtlich arbeiten. Sie reisen regelmässig auf eigene Kosten vor Ort, um sich ein Bild zu machen.

Santé-Burkina Suisse hat beispielsweise den Bau eines Brunnens für einen Kindergarten, ein Gesundheitszentrum, Solaranlagen, Gemüseplantagen, Schafzuchtprojekte und Getreidemühlen finanziert. Regelmässig zahlt der Verein Schul- und Essensgeld für 150 Schülerinnen und Schüler.

Volles Klassenzimmer
In den regelmässigen und immer privat finanzierten Reisen nach Burkina konnten die Helfer von Santé-Burkina Suisse zusammen mit den Verantwortlichen der Bauerngenossenschaft verschiedene Projekte, wie hier eine Schule, besuchen. Im direkten Kontakt mit der Bevölkerung erfuhren sie, welche Bedürfnisse dringend bestanden. Alexander Melliger

Insgesamt fliessen im Durchschnitt ungefähr 30’000 Franken jährlich nach Burkina Faso. «Wenn es viele kleine Vereine gäbe, könnte man einiges bewirken», sagt Patrizzi. «Aber es ist ein grosser Aufwand, viel Arbeit.»

Gründerin Patrizzi räumt ein, dass der Verein die Frage diskutiere, wie es weitergehen würde, sollten die Gründer plötzlich ausfallen. «Zum Glück haben wir auch drei junge Leute im Vorstand», sagt Patrizzi.

Frauen am Gärtnern
Der Verein Santé-Burkina Suisse finanzierte Gemüseplantagen in mehreren Dörfern. Alexander Melliger

Etablierte Hilfsorganisationen sind skeptisch

Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) reagiert auf Anfrage von swissinfo.ch skeptisch auf das Phänomen der ‹Pop-up NGOs›: «Die Arbeit in fragilen Kontexten ist mit Risiken verbunden und erfordert die Einhaltung spezifischer Standards, um sich und die betroffenen Menschen ausreichend zu schützen und keinen Schaden anzurichten.» Um sinnvolle Hilfe zu leisten, seien profundes Kontextwissen, Erfahrung, interkulturelle Fähigkeiten sowie methodische und fachliche Kenntnisse besonders wichtig.

Auch Martina Ziegerer von der ZEWO-Zertifizierung sagt, gut gemeint reiche nicht. «Das Vorhaben muss auch gut umgesetzt werden. Das ist nicht immer der Fall. Mitunter fehlt es an Transparenz, Kompetenz und Ausdauer. Denn in der Entwicklungszusammenarbeit braucht es oft Jahre, bis eine nachhaltige Verbesserung erreicht werden kann.»

Etwas differenzierter sieht es Alliance Sud, eine Arbeitsgemeinschaft verschiedener Hilfswerke: «Wenn die Partner vor Ort mit den ihnen anvertrauten Spenden professionell umgehen und transparent Rechenschaft ablegen, dann spricht nichts gegen diese Art der Direkthilfe», sagt Daniel Hitzig von Alliance Sud. «Bei Kleinstorganisationen gibt es im besten Fall Nähe und persönlichen Kontakt, was grosse Organisationen naturgemäss nicht bieten können.»

Doch auch Hitzig sieht Nachteile: «Humanitäre Hilfe oder Entwicklungsarbeit brauchen viel Erfahrung, Knowhow und einen langen Atem. Nicht umsonst verfügen professionelle Organisationen über die entsprechenden Strukturen und Instrumente, regelmässig finden interne und externe Evaluationen und Audits statt, die Wirksamkeit von Projekten wird mit den besten verfügbaren Methoden überprüft.» Zertifizierungen wie jene der ZEWO garantierten die Einhaltung von Standards. «All das können Mini-NGOs nicht bieten, es übersteigt ihre Möglichkeiten», so Hitzig.

Patrizzi hat sich über das ZEWO-Label informiert. Doch als sie erfuhr, dass es sie mehrere hundert Franken im Jahr kosten würde, entschied sie sich dagegen. «Es wäre schade, Geld für etwas auszugeben, das wir nicht brauchen. Kaum je hat jemand nach dem Label gefragt.»

Ein Treffen im Schatten eines Baumes
Alexander Melliger

Auch Werner Stahel sagt: «Eine ZEWO-Zertifizierung ist ein kaufmännischer Aufwand, den wir nicht leisten wollen und können.» Vertrauen sei viel wichtiger und das könne auch ein ZEWO-Gütesiegel nicht garantieren. «Wir hatten Glück, dass wir an ehrliche Menschen geraten sind.»

Ist die etablierte Entwicklungshilfe besser?

Doch rümpfen die «etablierten» staatlichen und privaten Stellen zu Recht die Nase? Auch teure Papiertiger konnten Skandale bei etablierten Hilfswerken nicht verhindern.

Caritas geriet 2007 wegen Bestechungsgeldern in die Schlagzeilen, beim HEKS unterschlug ein Projektkoordinator 2008 fast eine Million Franken. Und Mitarbeiter des britischen Hilfswerks Oxfam – an dessen Projekten sich auch die Schweiz finanziell beteiligt – haben als Gegenleistung für Hilfsgüter von notleidenden Frauen Sex verlangt. Jüngstes Beispiel: Laut Zeitungsberichten hat der Bund jahrelang ein Hilfswerk unterstützt, dessen Führungsetage mit mehreren Antisemiten und Islamisten besetzt warExterner Link.

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Ein Dauerbrenner ist auch die Kritik, dass bei Hilfswerken ein beachtlicher Anteil der Spendengelder in Werbung, Fundraising und Administration fliessenExterner Link. Nicht zuletzt verdienen Kader bei Hilfswerken teilweise stattliche Summen. Der Geschäftsleiter von Ärzte ohne Grenzen beispielsweise verdient gemäss einer Umfrage der Aargauer ZeitungExterner Link 168’000 Franken im Jahr, der von Caritas 213’000 und der von Helvetas 177’000, um nur einige zu nennen.

In die staatliche Entwicklungszusammenarbeit sowie in etablierte NGOs fliessen Milliarden. Man kann zu Recht fragen, ob die erzielte Wirkung im Verhältnis zu diesen Investitionen steht.

Ein gutes Beispiel dafür, welche Wirkung hingegen private Direktzahlungen haben können, sind die so genannten Remissen, die Rücküberweisungen von Migranten und Migrantinnen an Verwandte in ihren Heimatländern. Diese waren 2018 drei Mal so hoch wie die weltweiten Investitionen in Entwicklungshilfe.

Das eine tun und das andere nicht lassen

Vielleicht ist die Frage, was besser ist, ohnehin müssig: «Wir sehen uns überhaupt nicht in Konkurrenz zu den grossen Hilfswerken», sagt Patrizzi. «Kleine und grosse Hilfswerke können sinnvolle Hilfe leisten, und eine Zusammenarbeit kann sehr fruchtbar sein.» Patrizzi spricht aus eigener Erfahrung: In den ersten Jahren realisierte der Verein seine Projekte in Absprache mit dem Hilfswerk Solidar Suisse, das die Supervision übernahm.

Gruppenbild vor Plakat
Der kleine Verein Santé-Burkina Suisse arbeitete auch mit der etablierten Organisation SolidarSuisse zusammen. Alexander Melliger

Auch Hitzig von Alliance Sud sagt, das Engagement für etablierte Hilfswerke und ‹Mini-NGOs› schliesse sich gegenseitig nicht aus. «Wir wissen von zahlreichen Menschen, die beides tun.»

Und es gäbe noch eine dritte Variante, wie Fritz Brugger sagt: Ehemalige NADEL-Studierende haben vor einem Jahr eine PlattformExterner Link gegründet, auf der man direkt an lokale Hilfswerke spenden kann. «In vielen Ländern gibt es bestehende lokale Initiativen, die professionell und nachhaltig arbeiten, aber keine Zusammenarbeit mit ausländischen NGOs haben», so Brugger. «Wer etwas bewegen will, aber gegenüber grossen Organisationen skeptisch ist, findet hier eine Alternative.»

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