Türkei-Wahlen: Mit dem Bus zum Wahllokal in der Schweiz
Die hundertjährige Türkei steht vor einer Schicksalswahl: Kann Langzeit-Präsident Recep Tayyip Erdogan das Land eine weitere Amtszeit regieren? Rund 100'000 der gut 64 Millionen Stimmberechtigten leben in der Schweiz. Wie tickt die türkische Diaspora politisch?
Die Szene könnte schweizerischer kaum sein. Sonntagmorgen in der baselländischen Gemeinde Münchenstein. Über 100 Menschen haben sich in der Schützenstube zum Brunch versammelt.
Es wird gelacht. Vor dem Haus spielen Kinder. Dahinter befindet sich der Schiessstand der Gemeinde. Auf dem Parkplatz steht ein Car mit der Aufschrift «Extrafahrt».
Elif Yıldırım hat den Anlass mitorganisiert.
Früher war Elif Yıldırım Chefredaktorin einer türkischen Lokalzeitung. Doch bei den anstehenden türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 14. Mai darf die türkisch-schweizerische Doppelbürgerin nicht teilnehmen: «Mir wurde das Wahlrecht wegen eines Gerichtsverfahrens als Journalistin entzogen», sagt sie zu SWI swissinfo.ch.
So engagiert sie sich nach Kräften für ihr türkisches Heimatland in der Schweiz: Der Sonntagsbrunch in der Schützenstube wird von der Frauengruppe des Verein Solidaritätsaktion für Erdbeben veranstaltet. Bei dieser Katastrophe haben Anfang Februar dieses Jahres über 50’000 Menschen ihr Leben verloren.
Elif Yıldırım arbeitet heute nicht mehr als Journalistin, sondern als Sozialarbeiterin an einer Schule und Pflegefachfrau mit eigenem Unternehmen und unterstützt aktive Politikerinnen und Politiker mit türkischen Wurzeln.
Solche nehmen auch in der Schweizer Politik nach und nach eine prominente Rolle ein: Dazu gehören die grüne Nationalrätin Sibel Arslan, der sozialdemokratische Nationalrat Mustafa Atici und der derzeit «höchste Basler», Grossratspräsident Bülent Pekerman von den Grünliberalen.
Aber weder die Folgen des schlimmen Erdbebens noch der Einfluss türkischstämmiger Politiker:innen in der Schweiz dominieren die Gespräche beim Sonntagsbrunch. «Ich bin hier wegen der Wahlen von Mitte Mai», sagt die 16 Jahre alte Schülerin Lorin Toptas und fügt hinzu: «Da geht es um die Zukunft unseres Landes.»
Kann sich der Autokrat halten?
In der Tat steht die Frage im Raum, ob sich der autoritär regierende Präsident Recep Tayyip Erdogan an der Macht halten kann oder ob es in diesem wichtigen Brückenland zwischen Europa und Asien zu einem Machtwechsel kommt.
Wie Elif Yıldırım, so ist auch Lorin Toptas bei den aktuellen Wahlen ins türkische Parlament und den Präsidentenpalast nicht stimmberechtigt. «Aber ich habe viele Verwandte in der Türkei und Bekannte hier in der Schweiz, die diesmal zum ersten Mal mitbestimmen können».
In der Türkei können die dort lebenden gut 60 Millionen Wahlberechtigten nur am Wahltag, dem 14. Mai, ihre Stimme abgeben.
Sollte keiner der sechs Kandidaten für die Präsidentschaft mehr als 50% der Stimmen erhalten, kommt es am 28. Mai zur Stichwahl. In diesem Fall werden die Wahllokale in der Schweiz noch einmal für fünf Tage geöffnet, zwischen dem 20. und 24. Mai.
Weltweit stehen für die fast 3,5 Millionen türkischen Wahlberechtigten im Ausland 177 Wahllokale in 74 Staaten zur Verfügung, wobei es für diese dank eines digitalen Stimmrechtsregisters möglich ist, den Ort der Stimmabgabe frei zu wählen.
Diese wolle sie unterstützen und setzt sich deshalb am späten Vormittag in einen Bus mit den Reiseleitern Ahmet Öztuna und Atilla Toptas (Lorins Vater), der an diesem Tag auf seiner Sonderfahrt von Münchenstein nach Zürich wiederholt anhält, um Menschen zusteigen zu lassen.
Diese sind auf dem Weg zu einem von drei Wahllokalen, die in der Schweiz für die gut 100’000 türkischen Stimmberechtigten neun Tage lang geöffnet sind.
Grosse Unterschieden zwischen den Länder-Diasporas
Die grosse türkische Diaspora in Europa hat bei den letzten Wahlen eine wichtige Rolle gespielt, seit Erdogan ihnen 2014 das Recht gegeben hatte, ohne Rückkehr in die Türkei zu wählen.
Sowohl bei den letzten Wahlen und Abstimmungen in der Türkei, beim Verfassungsreferendum von 2017, als auch bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von 2018, wurden markante Unterschiede im Wahlverhalten der Exiltürk:innen deutlich.
So sprachen sich etwa in Deutschland fast zwei Drittel zugunsten des amtierenden rechtskonservativen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan aus, während in der Schweiz fast zwei Drittel der Linie der Opposition gegen Erdogan folgten.
Für den Migrationsforscher Özgur Özvatan, der am Berliner Institut für Migrationsforschung der Humboldt-Universität die Abteilung für Integrationsforschung leitet, hängen diese unterschiedlichen Wählerverhalten mit den Herkunftsprovinzen in der Türkei zusammen.
«In Deutschland stammten viele der wahlbeteiligten Türkischstämmigen aus traditionell vornehmlich rechtskonservativ wählenden Provinzen im Kernland, während die bisherigen Wahlergebnisse aus der Schweiz darauf schliessen lassen, dass die türkische Einwanderungsgeschichte in diesem Land tendenziell kurdisch geprägt ist. Oder aus der westlichen Küstenregion stammt, die historisch eher die kemalistische und sozialdemokratische CHP wählt», sagt Özvatan zu SWI swissinfo.ch.
Warteschlange vermieden
Der erste Wähler, der an diesem Tag schon vor der Eröffnung des Wahllokals vor der Messe in Zürich steht, heisst Baris Ilhan. Er ist zusammen mit seiner Familie schon am frühen Morgen aus Buchs im Kanton Aargau angereist.
«Bei den letzten Wahlen mussten wir in einer sehr langen Warteschlange anstehen, jetzt sind wir die Ersten», sagt er. Im Unterschied zu den meisten Passagieren im Extrabus aus Basel will Baris Ilhan seine Stimme auch diesmal wieder für Erdogan und dessen AKP-Partei abgeben.
«In einem Land wie der Türkei ist eine Demokratie wie hier in der Schweiz nicht möglich», ist Ilhan überzeugt: «Es braucht einen starken Mann wie Erdogan, keinen Schwächling wie Kilicdaroglu.»
Wie schon 2017 und 2018 dürfte Baris Ilhan mit dieser Haltung in Zürich und Bern in der Minderheit bleiben. In Genf hingegen – dem dritten Wahllokal in der Schweiz – sprachen sich bei den letzten Wahlen Mehrheiten für den Erdogan-Kurs aus.
Das überraschte, stammen doch auch in der Westschweiz viele Türkinnen und Türken aus Regionen, die traditionell für säkulare und kurdische Parteien stimmen.
In Frankreich leben, in der Schweiz wählen
Doch es gibt einen Grund. «In diesem Wahllokal registrieren wir viele Stimmberechtigte aus dem nahen Frankreich», erklärt Ipek Zeytinoglu Özkan, Generalkonsulin der Türkei in Genf. Zusammen mit ihrem Kollegen, Vizekonsul Metin Genc, ist sie für den Ablauf der Wahlen im Genfer Messezentrum verantwortlich, das nur wenige Meter vom Flughafen und der Grenze zu Frankreich entfernt ist.
Viele dieser auf Frankreich kommenden Wähler:innen zeichnen sich in ihrem Auftritt als eher konservative Sunnit:innen aus, die Präsident Erdogan und seine AKP auch in dieser Wahl wieder besonders stark bewirbt.
Die Durchführung von geregelten Wahlen, bei denen das Resultat auch von der verlierenden Seite akzeptiert wird, gehört laut dem Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser, der derzeit an der australischen Universität Newcastle lehrt, zu den «wenigen beständigen Errungenschaften der Demokratie in der Türkei».
Dies auch, wenn die Wahlen selbst wegen Repression und ungleichen Mitteln kaum fair seien. Zum Ende des Osmanischen Reiches, dass sich über Jahrhunderte in grossen Teilen des östlichen Mittelmeeres, Nordostafrika und dem Nahen Osten ausgebreitet hatte, habe es zwar immer «wieder ermutigende Ansätze und Vorschläge für einen liberalen türkischen Verfassungsstaat» gegeben. so Kieser. Letztlich aber hätten nationalistische und autoritäre Kräfte wiederholt die Oberhand behalten.
Die Reportage können Sie auch als Audio-Version hören – hier bei SRF Rendez-Vous:
Lausanner Vertrag als Geburtsurkunde
In einem neu erschienen Band* legt der Historiker Hans-Lukas Kieser dar, wie an der Lausanner Friedenskonferenz von hundert Jahren ein türkischer Staat geboren wurde, der die Rechte, Geschichte und Kultur nichttürkischer indigener Volksgruppen weitestgehend verleugnet.
Die acht Monate dauernde Konferenz am Genfersee machte aber auch deutlich, wie vielfältig die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei schon damals waren. Dies wird in einer neueröffneten Ausstellung im Historischen Museum Lausanne** aufgezeigt, die von der Ethnologin Gaby Fierz mitkuratiert wird.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges fanden Flüchtlinge und Verhandlungsdelegationen in Sonderzügen den Weg aus der Türkei an den Genfersee. «Schweizer Kapital und Knowhow waren am Aufbau der Bahn-Infrastruktur zwischen Europa und dem Nahen Osten massgeblich beteiligt», sagt Gaby Fierz zu SWI swissinfo.ch.
Sie weist darauf hin, dass nach der Unterzeichnung des Lausanner Vertrages am 24. Juli 1923 die neue türkische Republik – gegründet am 29. Oktober 1923 – das Schweizer Zivilgesetzbuch und das Obligationenrecht übernahm.
Gleichzeitig eröffnete Nestlé in Istanbul die erste Schokoladenfabrik in der Türkei, wo die damals schon global agierende Schweizer Firma seit 1875 eine Niederlassung hatte.
*Kieser, Hans-Lukas. 2023. When Democracy Died: The Middle East’s Enduring Peace of Lausanna. Cambridge University Press.
**Frontières, Le Traité de Lausanne 1923-2023. Musée Historique Lausanne. Offen 27.4.-8.10.2023. Teile der Ausstellung werden ab dem 14.8. auch im Polit-Forum Bern im Käfigturm gezeigt.
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