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«Mit E-Collecting stünde das Referendum in 2 Wochen, die Volksinitiative in 2 Monaten»

Spannende Debatte in nüchterner Umgebung: Die Diskussionsrunde (von links) mit Béatrice Wertli Meierhans, Uwe Serdült, Patrizia Laeri (Gesprächsleiterin), Daniel Graf. Nicht auf dem Bild ist Laura Zimmermann. ZDA

Comeback für das E-Collecting: An den Aarauer Demokratietagen zum Thema "Demokratie im digitalen Zeitalter" stand die digitale Unterschriften-Sammlung für Initiativen und Referenden im Zentrum. Promoter Daniel Graf will es mit dem Corona-Rückenwind auf nationaler Ebene verankern. Es gibt aber auch Warner.

Patrizia Laeri, Leiterin der Podiumsdiskussion der 12. Aarauer Demokratietage, grüsst nicht aus dem weiten und offenen Saal des Kultur- und Kongresshaus Aarau. Dort findet der Traditionsanlass des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA) in Normalzeiten statt.

Sondern aus einem nüchternen Raum an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) – Coronazeit eben.

Anmeldungen für den Zoom-Link: 175 Personen.

Teilnahme-Peak: 95 Personen.

Herkunft der Teilnehmenden: lokale und nationale Politikerinnen und Politiker, politische Parteien, Forschungsinstitute, Universitäten und Fachhochschulen, Lehrpersonen, Stadt Aarau, Medien.

Quelle: ZDA.

«Das Coronavirus hat laut Expertinnen und Experten die Schweiz digital um zehn Jahre in die Zukunft katapultiert», sagt Laeri einleitend. Damit öffnet die Wirtschaftsjournalistin der Runde den Raum für kühne Entwürfe und Visionen, aber auch Zweifel. Kurz: für die Freude und das Leiden an der Demokratie.

Im Lockdown wurden Digitalkonferenzen ebenso wie das Homeoffice zu neuen Standards – gewissermassen über Nacht.

Die Demokratie lässt es gemächlicher angehen. Hier tagen Parlamente und deren Kommissionen seither teils virtuell.

Der Turbo wittert Morgenluft

Daniel Graf, einer der «Turbos» der Digitalisierung der Demokratie in der Schweiz, hat ganz andere Pläne. Seine Vision: Er möchte Wecollect, die 2016 von ihm gegründete Online-Plattform für die Sammlung von Unterschriften für Initiativen und Referenden im Internet, offiziell auf nationaler Ebene verankern.

Sein Projekt war vor fünf Jahren auch eine Antwort gewesen auf den Entscheid der Schweizer Regierung, das sogenannte E-Collecting offiziell fallen zu lassen.

«Jetzt haben wir eine neue Debatte darüber, denn es erleichtert Bürgerinnen und Bürgern, die politische Agenda mitzugestalten», sagte Graf.

Die Aarauer Demokratietage sind im digitalen Zeitalter angekommen: Blick ins Videoconferencing-Studio der ETH Zürich, der Schaltzentrale des zweitägigen Anlasses. ZDA

Der Promoter weiss aber, dass er immer noch im Gegenwind steht. «E-Collecting könnte zu Machtverschiebungen führen. Deshalb sind Bundesrat, Parlament, Parteien und Gewerkschaften dagegen – es geht klar um Interessen und Macht.»

Beatrice Wertli Meierhans, Präsidentin der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) des Kantons Bern, liess diese Pauschalisierung nicht auf sich sitzen. «Ich unterstütze das E-Collecting. Aber es besteht die Gefahr, dass nicht über Inhalte diskutiert wird.»

Wertli Meierhans sieht durchaus Ansätze zu einer Verschiebung. «Corona hat zu einem Shutdown der Demokratie 1.0 geführt. Im Lockdown ist Politik weniger elitär geworden, indem digitale Tools neue Zugänglichkeiten zur Demokratie geschaffen haben.» Dies ermögliche eine neue Nähe zur Politik, dank derer sich wiederum mehr Menschen für sie begeistern könnten.

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Uwe Serdült, am ZDA zuständig für Digital-Democracy-Projekte, dämpfte die Hoffnungen Grafs auf ein nationales E-Collecting. Stattdessen empfiehlt er den föderalen Weg, also den Umweg über die Kantone. «Niemand weiss genau, was passiert, wäre E-Collecting für nationale Volksinitiativen und Referenden erlaubt. Man könnte es aber auf kantonaler Ebene austesten», sagt Serdült.

Wie gross seine Skepsis gegenüber E-Collecting auf nationaler Ebene ist, illustriert der ZDA-Forscher an einem Beispiel aus den Niederlanden. 2016 hätten dort innert sechs bis acht Wochen 450’000 Bürgerinnen und Bürger digital ein Referendum unterzeichnet. «Setzen wir diese Zahlen in Relation zur Schweiz, wäre hier ein Referendum in zwei Wochen machbar, eine Volksinitiative in ein bis zwei Monaten. Das würde die politische Landschaft völlig umpflügen.»

Die Folge wäre eine Zunahme von Vorlagen, die das politische System der Schweiz nicht mehr verdauen könnte. «Schon mit fünf Vorlagen an einem Abstimmungstermin ist eine faire Debatte nicht mehr gewährleistet», sagt Serdült.

«Nicht alles digitalisieren»

Laura Zimmermann (Operation Libero): Nicht alles, was technologisch machbar ist, muss sinnvoll sein. swissinfo.ch

Laura Zimmermann, Ko-Präsidentin der Operation Libero, plädiert für einen Tempo-Check. Auf das neue E-Voting-System der Schweizerischen Post angesprochen, das diese angekündigt hat, sagt sie: «In der Schweiz ist alles auf die Frage des E-Votings fokussiert. Aber man muss nicht alles dem umfassenden digitalen Wandel anpassen.»

Vielmehr müsse an deliberativen Prozessen festgehalten werden. «Und wir sollten grundsätzlich über die Digitalisierung der Partizipation diskutieren.» Ihre Hoffnungen setzt sie dabei in digitale Beteiligungs-Tools, die auch Ausländerinnen und Ausländern eine politische Teilhabe ermöglichten. In ihren Augen hat digitale Demokratie auch integrativen Charakter.

Persönliche Daten für Tinder, nicht aber den Staat

Auch Wertli Meierhans macht gegenüber dem E-Voting Vorbehalte. Zwar öffne es neue Kanäle zur Teilnahme. Aber Corona habe das Misstrauen bezüglich Missbrauchs persönlicher Daten verstärkt. Dabei stösst sie sich aber an eklatanten Widersprüchen: «Auf Tinder teilen die Menschen ihre Daten mit der ganzen Welt. Aber wenn es um die Corona App geht, haben sie grosses Misstrauen dem Staat gegenüber», so die CVP-Vertreterin. Vertrauen aber sei eine Grundlage für neue Formen der Demokratie.

Nach Gründen für die Defizite der Schweiz bei der digitalen Demokratie befragt, spricht Daniel Graf Klartext.

«Keiner der grossen Akteure der nationalen Politik hat die Digitalisierung der Demokratie auf seiner Agenda. Das ist ein krasses Demokratie-Versagen.»

Laura Zimmermann doppelt nach: «Da steckt nicht nur Strategie dahinter. Es hat auch sehr viel mit Inkompetenz zu tun. Bei den Politikern ist oft sehr, sehr wenig Wissen über Digitalisierung vorhanden.»

Die Aarauer Demokratietage sind die grösste regelmässige Veranstaltung zum Thema Demokratie in der Schweiz. Thema der 12. Ausgabe war «Demokratie im digitalen Zeitalter».

Den Auftakt bildete am 19. August eine reale Podiumsdiskussion. Es diskutierten Laura Zimmermann (Operation Libero), Béatrice Wertli Meierhans (CVP Kanton Bern), Daniel Graf (Stiftung direkte Demokratie/Public Beta) sowie Uwe Serdült (Leiter Digital-Democracy-Projekte ZDA). Gesprächsleiterin war die Wirtschaftsjournalistin Patrizia Laeri.

An der Forschungstagung vom 20. August diskutierten Experten und Forscherinnen aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich zu den Themen «Digitalisierte Städte» (Smart Cities) und «Digitales Lernen und Politische Bildung».

Das Publikum konnte sich an beiden Tagen live mit Fragen und Kommentaren aktiv beteiligen.

Thema der nächstjährigen Aarauer Demokratietage wird das Frauenstimmrecht sein, dessen Einführung sich 2021 zum 50. Mal jährt.

SWI swissinfo.ch #DearDemocracy ist Medienpartner der Veranstaltung.

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