Wie die Schweiz mit Jugoslawien ins Geschäft kam
Vor 50 Jahren besuchte erstmals ein Bundesrat das sozialistische Jugoslawien. Die Beziehungen sollten sich bis zum Ende des Kalten Krieges in ungeahnter Weise intensivieren.
Der «Warenaustausch wächst in beiden Richtungen», jährlich besuchten über 120 000 Schweizer Feriengäste Jugoslawien und den 15 000 in der Schweiz lebenden Gastarbeitern gehe es weitaus besser als ihren Landsleuten in anderen europäischen Emigrationsländern.
Dies war das Briefing, das Hans Keller, der Schweizer Botschafter in Belgrad, vor 50 Jahren seinem Aussenminister in Bern übermittelte.
Autor Thomas Bürgisser ist Historiker bei der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz und Experte für die schweizerisch-jugoslawischen Beziehungen. Sein Buch «Wahlverwandtschaft zweier Sonderfälle im Kalten Krieg» (2017) kann unter www.dodis.ch/q8Externer Link gratis heruntergeladen werden. Die zitierten Dokumente sind online verfügbar: www.dodis.ch/C1682Externer Link
Zwischen 28. Oktober und 1. November 1969 besuchte mit Willy Spühler erstmals ein Bundesrat Jugoslawien, den sozialistischen Vielvölkerstaat auf dem Balkan. Die Visite steht am Beginn einer bemerkenswerten diplomatischen Annäherung der beiden Staaten.
Zwei Länder zwischen den Blöcken
Es war das Zeitalter der Entspannungspolitik im Kalten Krieg, in dem sich sowohl die kapitalistische, aber neutrale Schweiz wie auch das kommunistische, aber blockfreie Jugoslawien eine Sonderrolle ausbedingt hatten.
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Spühlers Konterpart, Jugoslawiens Aussenminister Mirko Tepavac, gedachte die «langjährige unlogische Leere» in den politischen Kontakten mit dem gemeinsamen Bekenntnis zu einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz zu füllen. Der Moment sei günstig, um in einem solchen Rahmen die Position jener Staaten zu stützen, die – wie die Schweiz und Jugoslawien – eine von den Grossmächten unabhängige Politik verfolgen möchten.
Tepavac’ Avancen stiessen bei der Schweizer Diplomatie im Herbst 1969 noch auf wenig Gehör. Bis Mitte der 1970er Jahre sollte sich an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) jedoch im Verbund mit Österreich, Schweden und Finnland eine enge Partnerschaft zwischen Bern und Belgrad entwickeln.
Überraschender Auftritt Titos
Auf dem Landsitz Karadjordjevo traf sich der Sozialdemokrat Spühler, dessen Auftritt das Attribut «spröde» anhaftete, dann mit einer der schillerndsten Figuren der Weltpolitik des 20. Jahrhunderts. Überraschend gewährte Jugoslawiens Staatspräsidenten Josip Broz Tito dem hohen Gast aus der Schweiz eine Audienz.
Das Gespräch im engsten Kreis, das Tito über weite Strecken auf in leicht gebrochenem Deutsch bestritt, drehte sich um die grosse Politik in Europa und der Welt. Nun war es Spühler, der den Jugoslawen den Vorschlag für eine gemeinsame Initiative unterbreitete.
Dabei ging es um den nigerianischen Bürgerkrieg.
Image-Korrektur für die Schweiz
Seit 1967 tobte um die Region Biafra ein blutiger Konflikt, in dem sowohl schweizerische wie jugoslawische Missionen humanitäre Hilfe leisteten. Allerdings war das Ansehen der Schweiz seit dem Bührle-Skandal arg ramponiert: 1968 war publik geworden, dass die Waffenfabrik Oerlikon unter Umgehung des bundesrätlichen Embargos mit gefälschten Papieren über Drittstaaten im grossen Stil Flugabwehrgeschütze an die nigerianische Armee lieferte.
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Kriegsmaterialexporte als steter Skandalherd
Gleichzeitig evozierte die durch den Krieg hervorgerufene Hungerkatastrophe in der Schweiz eine einmalige Welle der Solidarität. Für Kritiker hatte die Affäre deutlich die Doppelzüngigkeit der Schweizer Neutralitätspolitik entlarvt.
Jugoslawien genoss als Gründungsnation der Bewegung blockfreier Staaten dagegen einen ausgezeichneten Ruf in der Dritten Welt.
In Bundesbern hielt man damals zwar vornehm grösstmögliche Distanz zum «Neutralismus» der Blockfreien mit seinem antiwestlichen und sozialistischen Impetus. Nun ergab sich jedoch just im Vorfeld von Spühlers Besuch eine Möglichkeit, über informelle Kontakte zu den Sezessionisten in Biafra prestigeträchtig die Initiative zu einem einwöchigen Waffenstillstand für Nigeria zu lancieren.
Strategische Öffnung «nach links»
In dieser Situation erschien dem Aussendepartement eine «Öffnung nach links» als «vielversprechend», will heissen: Jugoslawien sollte mit seinem Renommé in die schweizerische Vermittlungsaktion mit einbezogen werden.
Der direkte Draht zum Autokraten Tito erwies sich in dieser Hinsicht als glückliche Fügung. «Unser Plan», konnte Spühler in Bern berichten, stiess «eindeutig auf Interesse». Man beschloss, dass für den gemeinsamen Vorstoss ein günstiger Zeitpunkt abgewartet und bis dahin absolute Diskretion über das Vorhaben bewahrt werden müsse.
Bern wollte nun auch die neutralen Partner Österreich und Schweden einweihen. Vom jugoslawischen Vorschlag, auch die Spitzen der UNO, Äthiopiens sowie Tansanias ins Vertrauen zu ziehen, waren die Schweizer Diplomaten dagegen wenig begeistert, «da zu befürchten war, dass der ganze Plan dadurch vorzeitig publik würde.»
Peinliche Indiskretion eines Nationalrats
Tatsächlich scheiterte die schweizerisch-jugoslawische Vermittlung einer «Mercy Week» im nigerianischen Bürgerkrieg an einer peinlichen Indiskretion. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass das Informationsleck eben nicht in Belgrad mit seinem oft als spektakulär gescholtenen aussenpolitischen Aktivismus lag, sondern beim Musterknaben der diskreten «guten Dienste».
Der Tessiner Nationalrat Enrico Franzoni, der in einer vertraulichen Kommissionssitzung in die Sondierungen eingeweiht wurde, plauderte das Geheimnis freimütig vor Radio und Fernsehen aus. Sowohl die Schweiz wie Jugoslawien gerieten durch den darauffolgenden Ansturm der Massenmedien in eine «missliche Lage».
Postwendend musste die Aktion abgeblasen werden.
Bedeutsamster Partner im Osten
Die Auswirkungen der Besuchsreise von Bundesrat Willy Spühler nach Belgrad gehen jedoch weit über die Anekdote von diesem peinlichen Fauxpas der Schweizer Diplomatie hinaus. Die Konsultationen zwischen Spühler, Tepavac und Tito markieren den Beginn einer Intensivierung der bilateralen Beziehungen der Schweiz, wie sie im Zeitalter des Kalten Krieges mit keinem anderen kommunistischen Regime auch nur ansatzweise denkbar gewesen wären.
Aus den traditionell guten Handelsbeziehungen mit dem Land, von denen Botschafter Keller in seiner vorbereitenden Notiz von 1969 schrieb, entwickelte sich Jugoslawien bald zum mit Abstand bedeutsamsten Wirtschaftspartner der Schweiz in Osteuropa. Mitte der siebziger Jahre wurden hier fast zwei Prozent aller schweizerischen Exporte abgesetzt.
«Rivella» made in Yugoslavia
Die wachsende Liberalisierung des Aussenhandels und die Entwicklung hin zur einer «sozialistischen Marktwirtschaft» ermöglichten dem Balkanstaat auch zahlreiche Lizenzverträge und joint ventures mit der Schweizer Maschinen- und Elektroindustrie, Pharmaunternehmen sowie Lebensmittelkonzernen. So wurden in Jugoslawien etwa «Stocki», «Toblerone» und «Rivella» produziert. Ihre exzessiven Einkäufe finanzierte sich Jugoslawien unter anderem durch Kredite der Schweizer Banken.
Grosse Diaspora in der Schweiz
Die florierenden Wirtschaftskontakte begünstigten auch die Arbeitsmigration aus Jugoslawien in die Schweiz. Aus den 15 000 Gastarbeitern von 1969 wurden bald 25 000 (1970), 60 000 (1980) und bis 1990 gar 172 000. Heute sind die über 300 000 Bosnier, Kosovarinnen, Kroaten, Mazedonierinnen, Montenegriner, Serbinnen und Slowenen die grösste Ausländergruppe in der Schweiz.
Dazu kommen die Zehntausenden ehemaligen Migrantinnen und Migranten, die seit Beginn der Zuwanderung das Schweizer Bürgerrecht erworben haben. Rund einer unter siebzehn Menschen in der Schweiz hat familiäre Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien.
Die jugoslawischen Arbeitskräfte konnten von der florierenden Schweizer Wirtschaft nur deshalb schon ab den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts angeworben werden, weil das Tito-Regime – mit all seinen repressiven Elementen – anders als die Staaten Osteuropas über ein liberales Ausreiseregime für die «temporäre Beschäftigung im Ausland» einführte und seit dem machtpolitischen Bruch mit Moskau 1948 sich eng an den Westen als Kreditgeber band.
«Den Kommunisten den Bart streicheln»
Die Kritik an Spühler, er habe in den letzten Monaten vor seinem angekündigten Rücktritt «noch den Kommunisten den Bart streicheln» wollen – damals war der Bundesrat bezüglich Besuchsreisen noch äusserst zurückhaltend – zielte deshalb ins Leere.
Jugoslawien gehörte eben nicht zum Ostblock. Seine Sonderrolle im Ost-West-Konflikt machte den sozialistischen Vielvölkerstaat bis zu seinem Zusammenbruch 1991 in diversen Bereichen zu einem überraschend interessanten Partner der Schweiz.
Die dominante Präsenz von Menschen aus Ex-Jugoslawien, die sich aller fremdenfeindlicher Debatten zum Trotz zunehmend normalisiert, ist die nachhaltigste Konsequenz dieser Entwicklung.
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