Mütter in Schweizer Parlamenten: Geld oder Politik?
Nach einer Geburt stehen Parlamentarierinnen vor dem Dilemma: Geld aus der Mutterschaftsversicherung zu erhalten oder weiter Politik zu betreiben. Das soll sich nun ändern.
Was der damaligen Grünen-Grossrätin Lea Steinle 2018 passiert ist, sorgte internationalExterner Link für Aufregung: Weil sie ihr Baby dabeihatte, liess sie der Präsident des Parlaments von Basel-Stadt nach dem Stillen nicht zurück in den Saal. Steinle konnte nicht abstimmen. Das Argument des Parlamentspräsidenten war, dass nur die Parlamentarier:innen im Saal sein dürfen.
Keine anderen Menschen sollen im Saal sein – noch nicht mal solche, die weder reden noch laufen können.
Weltweit stecken Demokratien in Krisen. Seit rund 15 Jahren gibt es ein Trend zu Autoritarismus und Diktaturen.
Die Schweiz ist hingegen ein Hort der Stabilität. In der Regierung sitzen fast alle Parteien kollegial, vorgezogene Neuwahlen gibt es nie – und trotzdem können die stimmberechtigten Bürger:innen in Initiativen und Referenden so oft über Themen abstimmen wie in keinem anderen Land der Welt.
Doch die Geschichte der Schweizer Demokratie ist auch eine Geschichte darüber, wer mitbestimmen darf und wer nicht. Bei der Gründung des Bundesstaates 1848 waren nur 23% der Bevölkerung stimmberechtigt und die längste Zeit ihrer Geschichte hat die Schweizer Demokratie die Hälfte der Bevölkerung ausgeschlossen – erst seit gut 50 Jahren haben Frauen politische Rechte. Doch bis heute können viele in der Schweiz nicht mitreden.
Wer mitreden darf und wer nicht, ist politisch umstritten. Die deutliche Mehrheit der Schweizer Bevölkerung hat bisher eine Ausweitung der politischen Rechte, etwa auf niedergelassene Ausländer:innen, stets abgelehnt. So wie die JSVP-Politikerin und Juristin Demi Hablützel, die in ihrem Meinungsbeitrag schreibt: «Politische Rechte sind kein Tool zur Inklusion».
Doch der heiklen Frage, wer wie umfassend mitbestimmen darf, müssen sich Demokratien immer wieder neu stellen. Besonders wenn die liberale Demokratie global nicht mehr unwidersprochen der Normalfall ist, müssen demokratische Staaten den eigenen Ansprüchen gerecht werden.
Deshalb widmet sich SWI swissinfo.ch in dieser Serie der politischen Inklusion. Wir befassen uns mit Debatten und Diskussionen darum, wer in der Schweiz wieviel mitbestimmen darf. Wir sprechen mit Expert:innen. Wir stellen Menschen und Bewegungen vor, die sich für umfassende politische Inklusion verschiedener Minderheiten und Marginalisierten in der Schweiz einsetzen.
Übrigens gehörten auch die Auslandschweizer:innen lange zu den Ausgeschlossenen – erst seit 1992 dürfen sie wählen und abstimmen.
«Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass das zum Problem wird, wenn mich mein Kind im Tragetuch begleitet», sagt Steinle gegenüber SWI Swissinfo.ch. Hinterher habe sie Wut und Ohnmacht empfunden. «Mütter werden zwar idealisiert, aber nicht als wirklicher Teil der Gesellschaft betrachtet.» Ohne ein privates Netz oder einen privilegierten Hintergrund sei politische Arbeit kaum möglich, sagt Steinle. Und das habe Folgen: Manche würden darum gar nicht zur Wahl antreten.
Obwohl die Kampagne «Helvetia ruft» Wirkung zeigt: Die Wahlen 2019 setzten einen Rekord weiblicher Kandidat:innen und auch unter den Gewählten: Der Frauenanteil sprang um zehn Prozent auf einen neuen Rekord von 42 Prozent. Für die Wahlen 2023 versprachen die Präsident:innen aller Parteien öffentlichExterner Link, diesen Rekord erneut zu übertrumpfen. Alliance F, der Dachverband der Frauenorganisationen, spricht von der «grossen Wette auf eine bessere Demokratie».
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Dieser Entwicklung zum Trotz ist die Situation in der Schweiz beim Mutterschaftsurlaub paradox: Wäre Steinle an jenem Sitzungstag mit ihrem Kind zuhause geblieben, hätte ihre Stimme gefehlt – in Basel-Stadt gibt es nur für Kommissionssitzungen Stellvertreter:innen. In Parlamenten geht es aber um jede Stimme. Neben der politischen hat das Dilemma vielerorts eine finanzielle Dimension: Mit dem Abstimmen endet in den meisten Schweizer Parlamenten der Mutterschaftsurlaub. In Basel nicht.
Geld oder Politik?
Das Dilemma ist das Resultat einer Tradition der Schweizer Politik: Parlamentarier:innen sollen keine Berufspolitiker:innen sein. Es gilt das Ideal der «Milizpolitiker:in».
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Das Schweizer Milizsystem
Die Idee des «Milizsystems» ist älter als der moderne Staat und fand im 19. Jahrhundert auch Eingang in die Bundesverfassung: Die Bürger, später auch die Bürgerinnen, sollten ihr Amt aus republikanischer Überzeugung ausüben – nicht als Job.
Die Tätigkeit von Parlamentarier:innen wird deswegen bis heute als Nebenjob definiert. Auf der nationalen Bühne gibt es zwar immer mehr Politiker:innen, die ihrem politischen Engagement ihre ganze Zeit widmen, aber zumindest offiziell stehen auch die Mitglieder des Nationalrats mit einem Fuss im Berufsleben jenseits der Politik.
«Die Miliztradition ist in der Schweiz traditionell ein wichtiges Element des politischen Systems und der politischen Kultur. Die kleinräumige politische Organisation wäre sonst kaum finanzierbar», führt Isabelle Stadelmann-Steffen aus. Stadelmann-Steffen ist Professorin für Vergleichende Politik an der Universität Bern.
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Frauenrekord im Parlament – trotz weniger Frauen an der Urne
Eine Studie der Universität GenfExterner Link kam 2017 zum Schluss, dass ein Parlamentsmandat auf Bundesebene etwa der Belastung eines Halbtagsjob entspricht. Nationalrät:innen verdienen im Schnitt gut 90’000 Franken. Davon kann man in der Schweiz gut leben. Das Engagement in einem Kantonsparlament verbleibt hingegen ein Zubrot. Auf Gemeindeebene ist die Entschädigung oft wenig mehr als ein Trinkgeld – die Einwohnerrät:innen in der Kleinstadt Brugg erhalten beispielsweise 50 Franken pro Sitzung. Stadelmann-Steffen sagt: «Eine Schwäche des Systems war schon immer, dass man sich ein Milizamt ‹leisten› können muss. Einerseits finanziell, aber auch in Bezug auf die verfügbare Zeit.»
Unabhängig vom Geschlechterthema stellt sie infrage, «inwiefern dieses auf unbezahlter Arbeit beruhende System noch zeitgemäss ist und man damit noch geeignete Personen rekrutieren kann.»
Doch die Parlamentsarbeit, die man romantisch als Bürger:innendienst verklären kann, ist aus rechtlicher Sicht klar Arbeit: Angesichts der Miliztradition vielleicht überraschend, befand das Bundesgericht im Frühjahr 2022, dass Parlamentsarbeit eine «umfassende Arbeitsleistung» sei. Mit der Wiederaufnahme der Arbeit ist der Mutterschaftsurlaub vorbei. Die grünliberale Nationalrätin Kathrin Bertschy musste ihre Entschädigung aus dem Mutterschaftsurlaub zurückzahlen – weil sie währenddessen an Parlamentssitzungen teilgenommen hatte.
Bertschy, auch Co-Präsidentin von Alliance F, sagte damals dem «Tages-Anzeiger»: «Parlamentarierinnen im Mutterschaftsurlaub ist es damit faktisch untersagt, ihre demokratischen Rechte wahrzunehmen.» Für die Nationalrätin Bertschy ist das finanziell verkraftbar. Für Politikerinnen in Kantonen und Gemeinden bedeutet es bisher aber: Geld oder Politik. Es ist ein sehr schweizerisches Problem, geschaffen von der Tradition, dass Politik immer Nebenjob bleiben soll.
Die Kantone Zug, Luzern, Basel-Stadt und Basel-Land setzen sich mit Standesinitiativen dafür ein, dass Mütter abstimmen dürfen, ohne auf ihre Mutterschaftsversicherung verzichten zu müssen.
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Handwerkerin der Demokratie
Stellvertretungen und digitale Abstimmungen
Eine Lösung damit Parlamentspolitik generell mit Betreuungsverantwortung vereinbarer würde, wären Stellvertretungsregelungen. Solche kennen die Kantone Wallis, Jura, Genf und Neuenburg bereits. Die Stellvertreter:innen stimmen ab, wenn Parlamentarier:innen abwesend sind. Die Politologin Stadelmann-Steffen begrüsst diese Regelung: «Dies sendet die Botschaft aus, dass niemand unersetzbar ist und gute Leistung nicht ständige Präsenz bedeutet. Dieses Umdenken ist wichtig, um Menschen mit Vereinbarkeitsherausforderungen stärker in Führungspositionen zu bringen.»
Der Umgang mit Kleinkindern in Parlamenten ist weltweit sehr verschieden: Im australischen Parlament waren Babys bis 2016 verboten. Im Jahr darauf stillte eine Grünen-Senatorin ihre Tochter sogar, während sie ihre Motion vorstellte. Neuseeland, Argentinien und Brasilien erlebten bereits stillende Mütter in Parlamentsdebatten – während man in Grossbritannien im Sommer 2022 erneut klarstellte, dass Kleinkinder im Parlament unerwünscht seien.
Der Nationalrat entschied sich vor fünf Jahren gegen Stellvertreter:innen im Bundesparlament. Das zündende Argument: Gemäss Bundesverfassung sitzen 200 Abgeordnete im Nationalrat. Stellvertreter:innen könnte es erst nach einer Verfassungsänderung geben. Eingereicht hatte die Motion Grünen-Nationalrätin Irène Kälin, die ihr Kind im Tragetuch bereits vor Lea Steinle und ohne Eklat ins Parlament mitgebracht hatte. So streng wie 2018 in Basel-Stadt ist man im Bundeshaus also nicht.
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Politische Rechte sind kein Tool zur Inklusion!
Und auch in Basel gab es vor dem sogenannten «Babygate» pragmatischere Parlamentspräsidenten: Sein direkter Vorgänger 2017, ein Politiker der rechtsbürgerlichen SVP, tolerierte ein Baby im Parlament. In Basel-Stadt endet der Mutterschaftsurlaub nicht, wenn man abstimmt, sondern erst dann, wenn man Sitzungsgeld bezieht, was das finanzielle Dilemma kleiner macht. Mit einer geplanten Regelung sollen Politiker:innen künftig zudem digital zuhause aus abstimmen dürfenExterner Link, wenn sie beruflich, durch Militär, private Notfälle – oder eben den Mutterschutz – verhindert sind.
Nach ihrem Rauswurf erlebte Steinle auch Unterstellungen, dass sie ihr Kind aus Kalkül mitgebracht habe. Dass dem nicht so ist, bewies Steinle, als sie ihre politische Karriere bald darauf beendete: wegen der «Dreifachbelastung Familie – Politik – Beruf».
Der Wille, Mutterschaft und Parlamentsarbeit vereinbar zu machen, wächst in der Schweiz. Eine Ausnahme, so dass Mütter durch Präsenz im Parlament ihre Mutterschaftsversicherung nicht mehr riskieren, hat bereits die zuständigen Kommissionen im Bundeshaus überzeugt. Auch der Frage, wie Parlamentsarbeit im Lokalen entschädigt wird, muss sich die Schweizer Politik mittelfristig stellen. Diese Diskussion reicht über Betreuungsverantwortung hinaus.
Editiert von David Eugster.
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