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Naher Osten vor gefährlichem politischem Vakuum

23. September 2011: Die Rede von Mahmoud Abbas vor der UNO wurde in Ramallah begeistert aufgenommen. Keystone

Robert Malley, ein auch von der Schweizer Diplomatie konsultierter Experte, analysiert die palästinensische Initiative bei der Uno und die Rolle der Hauptakteure im israelisch-palästinensischen Konflikt.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bearbeitet derzeit den Antrag Palästinas, als 194. Mitglied in die UNO aufgenommen zu werden. Dieser Prozess wird voraussichtlich mehrere Monate dauern.

In der Zwischenzeit müssen sich die palästinensischen Behörden und Israel mit einem neuen Friedensplan beschäftigen, der am letzten Wochenende vom Nahostquartett (UNO, EU, USA, Russland) initiiert wurde.

swissinfo.ch befragte dazu Robert Malley, den ehemaligen Assistenten von US-Präsident Bill Clinton für arabisch-israelische Angelegenheiten. Malley ist derzeit Direktor der Sektion Middle East and North Africa der International Crisis Group, einem Think Tank in Brüssel.

swissinfo.ch: Befinden sich die Palästinenser mit ihrem Beitrittsgesuch nun gegenüber Israel in einer stärkeren Position?

Robert Malley: Zweifellos hat die palästinensische Forderung innerhalb der UNO-Generalversammlung, in Palästina, ja auf der ganzen Welt eine ziemlich positive Resonanz hervorgerufen. In diesem Sinne ist die Position von Palästina und Präsident Abbas gestärkt worden.

Es bleibt die Frage, wie man diese relative Stärke in einen politischen und diplomatischen Vorteil gegenüber Israel umsetzen könnte. Dies gilt auch, wenn Palästina einen Mehrheitsbeschluss der Generalversammlung für einen Nicht-Mitgliedschafts-Status erwirken kann.

Ziel der Palästinenser ist ja nicht, die Sympathie der Welt zu bekommen, sondern einen unabhängigen und souveränen Staat zu erhalten, das palästinensische Flüchtlingsproblem zu lösen und ein normales Leben zu beginnen.

Diese Frage stellte sich vor dem Beitrittsgesuch bei der UNO und sie besteht auch heute noch.

swissinfo.ch: Die Hamas hat ihr Misstrauen gegenüber des von Mahmoud Abbas angestossenen Prozesses geäussert. Schadet diese Differenz der Sache der Palästinenser?

R.M.: Das ist nicht das grösste Hindernis. Wie sich bei den Reaktionen der palästinensischen Bevölkerung gezeigt hat, scheint die Initiative des palästinensischen Präsidenten ein extrem positives Feedback ausgelöst zu haben.

Meiner Ansicht nach hat die Hamas die Erwartungen des palästinensischen Volkes verkannt, dass die Führer gegenüber der internationalen Gemeinschaft eine starke Haltung einnehmen, welche die palästinensische Position bei den Vereinten Nationen darlegt, ohne amerikanischem oder anderem Druck zu erliegen.

Die Hamas steht nun im Widerspruch zu den Ansichten der Palästinenser da. Aber sie setzt weiter darauf, dass innerhalb der nächsten Monate keine Ergebnisse erzielt werden.

Hamas hat ein Problem mit der Initiative von Mahmoud Abbas. Denn dieser ist bereit, mit einem israelischen Staat innerhalb der Grenzen von 1967 zu leben. Diese Position kann Hamas nicht akzeptieren.

swissinfo.ch: Israels Ministerpräsident Benjamin Nethanjahu hat nach seinem sehr ablehnenden Diskurs vor den Vereinten Nationen laut einer Untersuchung 9 Prozentpunkte an Zustimmung gewonnen. Spielt er mit der Unnachgiebigkeit in dieser Frage, um Boden gegenüber der sozialen Bewegung gut zu machen, den er in letzter Zeit verloren hat?

R.M.: Jede der wichtigen Reden vor der Generalversammlung hatte ihre Zielgruppen. Für Obama waren es die amerikanische jüdische Gemeinde und Israel. Der israelische Ministerpräsident peilte die öffentlichen Meinungen in seinem Land und in den USA an. Präsident Abbas sprach in Richtung der arabischen Welt und natürlich das palästinensische Volk an.

Das Ziel des israelischen Ministerpräsidenten war, seine Position in seinem Heimatland und in den Vereinigten Staaten zu stärken. Von diesem Punkt aus gesehen war Benjamin Nethanjahus Mission erfolgreich, auch im Hinblick, dass jederzeit vorgezogene Wahlen stattfinden könnten.

Die israelische Öffentlichkeit ist in ihrer Mehrheit angesichts der Umwälzungen in der arabischen Welt gegenüber den Palästinensern sehr skeptisch und nervös. Sie macht nicht Nethanjahu für die gegenwärtige Sackgasse zwischen Israelis und Palästinensern verantwortlich.

swissinfo.ch: Stellen sich Mahmoud Abbas oder Barack Obama auf die Zeit nach Nethanjahu ein?

R.M.: Jeder hofft wahrscheinlich auf ein Nachher. Präsident Abbas hofft ohne Zweifel auf eine Ära nach Nethanjahu und der israelische Premierminister auf eine Zeit nach Obama…

Und Obama steht vor einem sehr schwierigen Wahlkampf, bei dem er jede Unterstützung braucht, die er kriegen kann. Zu Beginn seiner Amtszeit war er stark am israelisch-palästinensischen Friedensprozess beteiligt und er sah sich nur mit Problemen konfrontiert. Das könnte sich wiederholen.

Es liegt daher an jedem Involvierten (Palästinensern, Israelis, Amerikanern und Europäern), darüber nachzudenken, wie der Friedensprozess, der in den letzten 18 Jahren wenig Fortschritte gemacht hat, wiederzubeleben wäre.

swissinfo.ch: Hat denn die Initiative des Nahost-Quartetts überhaupt eine Chance auf Erfolg?

R.M.: Diese Initiative ist komplett surrealistisch. Das Quartett hat monatelang vor dem palästinensischen Antrag auf eine UNO-Mitgliedschaft versucht, eine gemeinsame Deklaration zu finden. Es konnte sich lediglich darauf einigen, die Parteien dazu aufzurufen, innerhalb eines Jahres Verhandlungen abzuschliessen.

Das Quartett versucht mit diesem Vorschlag bloss, sein Weiterbestehen zu begründen. Aber dieser Vorschlag könnte auch den gegenteiligen Effekt bewirken.

swissinfo.ch: Könnten die Palästinenser nicht vom Aufstieg der Schwellenländer und deren Diplomatie profitieren, während sich die Macht des Westens vermindert?

R.M.: Es besteht praktisch kein Zweifel, dass die traditionellen Mächte, insbesondere die USA, Federn lassen. Aber bis jetzt hat noch niemand die Gelegenheit ergriffen, sich auf der internationalen Bühne durchzusetzen.

Noch ist kein anderes Land in der Lage, dort erfolgreich zu sein, wo die Amerikaner gescheitert sind. Vielmehr befinden wir uns, nachdem die USA in der Region an Einfluss und Glaubwürdigkeit verloren haben, in einem diplomatischen Vakuum.

Die Türkei versucht, ihre Stimme zu erheben. Das heisst aber nicht, dass sie heute im Stand ist, die Lösung des Konflikts voranzutreiben. Die wahrscheinlichste Perspektive ist nicht, dass die Vereinigten Staaten durch eine andere Macht ersetzt werden, sondern ein diplomatisches Vakuum, das gefährlich sein könnte.

Keiner der Akteure sucht die Konfrontation, weder Israel, noch die Palästinenser, noch die Hamas. Ein Konflikt könnte jedoch aufgrund von Missverständnissen und der Tatsache ausbrechen, dass wir eine neue ungewisse Periode in der Region erleben.

«Erinnern wir uns an Präsident Obamas Rede anlässlich der Generalversammlung vor einem Jahr. Seine ermutigenden Worte hatten uns auf einen Wandel im Nahen Osten hoffen lassen.[…]

In der Rückschau müssen wir leider feststellen, war das vergangene Jahr aus Blei, das nicht zu Fortschritt, sondern zu einer Verschärfung der Lage geführt hat. Das gilt auch heute: Seit über 60 Jahren bemüht sich die internationale Gemeinschaft um die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, dass der Friedensprozess durch Frieden ersetzt wird. […]

Die Genfer Initiative ist heute ein konsolidierter Vorschlag, detailliert und kompatibel mit den international akzeptierten Parametern, einschliesslich der Friedensinitiative der arabischen Länder. Sie steht zur Verfügung der politischen Entscheidungsträger, aber auch jenen Menschen, die das Recht haben, den Frieden einzufordern.»

Aus der Rede der Schweizer Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey an der UNO-Generalversammlung vom 21. September 2011.

(Übertragung aus dem Französischen: Etienne Strebel)

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