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Nationalistischer Auftrieb setzt Europa-Debatte in Gang

Laut Ioannis Papadopoulos bleiben die wichtigsten Kräfte des neuen EU-Parlaments das rechte und linke Zentrum. rts.ch

Abgesehen davon, dass gewisse Regierungen abgestraft worden sind, haben die EU-Parlamentswahlen auch zu einer neuen Debatte über die europäische Integration beigetragen. Das sei vor allem den euroskeptischen Parteien zu verdanken, sagt der Politologe Ioannis Papadopoulos.

Nach dem Schock, den die Ergebnisse der extremen Rechten am Sonntag ausgelöst hatten – insbesondere in Frankreich –, haben sich am Dienstag die europäischen Staats- und Regierungschefs getroffen, um über die Nominationen an der Spitze der europäischen Institutionen sowie die Prioritäten der Europäischen Union (EU) für die nächsten fünf Jahre zu diskutieren.

EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy hat sie aufgelistet: Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung, funktionierende Währungsunion, Kampf gegen den Klimawandel, ein Projekt für eine europäische Energie-Union, Kampf gegen illegale Immigration.

Ioannis Papadopoulos, Politologe an der Universität Lausanne, analysiert die neuen Verhältnisse der politischen Kräfte im Innern der EU und deren Auswirkungen auf die Schweiz.

Die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Länder haben am 27. Mai entschieden, vor der Nominierung eines neuen Kommissionspräsidenten die Prioritäten der EU zu überdenken. Damit antworteten sie auf die eurokritische Welle, die der EU bei den Europa-Wahlen entgegen schwappt.

EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy wurde beauftragt, mit dem Europa-Parlament und den verschiedenen parlamentarischen Gruppen in Dialog zu treten, sobald diese gebildet seien. Auch die Staats- und Regierungschefs sollen konsultiert werden.

Zur Sprache kommen sollen «die Nominierungen», u.a. jene des Kommissionspräsidenten, sowie die Prioritäten der EU in den kommenden 5 Jahren.

Van Rompuy hat betont, dass er sich mit Jean-Claude Juncker getroffen habe, dem Kandidaten der Europäischen Volkspartei (PPE, mitterechts), jener Gruppierung, die sich nach den Wahlen an der Spitze befindet. Aber die Wahl des nächsten Chefs der europäischen Exekutive ist noch längst nicht besiegelt.

Gestützt auf die starke Position im neuen Parlament – 213 von 751 Sitzen – erhebt der Kandidat der PPE Anspruch auf den Posten. Aber er braucht eine Mehrheit, und die einzige Möglichkeit, diese zu erlangen, ist eine Koalition mit den Sozialisten (191 Sitze) und der möglichen Unterstützung der Liberalen (64).

Mehrere rechtsgerichtete Regierungschef weigern sich, Juncker zu unterstützen: Der konservative britische Premierminister David Cameron, der rechtsliberale holländische Premier Mark Rutte, der national-konservative ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der liberal-konservative schwedische Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt sowie der national-konservative finnische Ministerpräsident Jyrki Katainen.  

(Quelle: AFP)

swissinfo.ch: Lassen sich alle euroskeptischen Parteien in den gleichen Topf werfen?

Ioannis Papadopoulos: Die Eurobarometer haben bereits infolge der Krise gezeigt, dass die Wahrnehmung der EU in den letzten Jahren generell schlechter geworden ist. Es gibt in der Bevölkerung Europas einen diffusen Euro-Skeptizismus oder vielmehr eine kritische Stimmung gegenüber Brüssel.

In gewissen Ländern, nicht in allen, haben euroskeptische Gruppierungen bei diesen Wahlen einen beachtlichen Erfolg erzielt. Aber in Deutschland zum Beispiel lässt sich dieses Phänomen nicht feststellen. Das Ergebnis der «Alternative für Deutschland» ist viel schwächer ausgefallen als jenes der UKIP in Grossbritannien.

Ausserdem vertreten diese Parteien unterschiedliche Positionen. Die UKIP ist klar für einen Ausstieg aus der EU, Frankreichs Front National (FN) hingegen ist zwiespältiger. Aber die Ausländerfeindlichkeit des FN ist offensichtlicher. Diese Parteien bilden auf europäischer Ebene keine homogene Strömung.

swissinfo.ch: Ist die Botschaft der Wähler wie in der Vergangenheit in erster Linie für den internen Gebrauch oder richtet sie sich auch an die Europäische Union als solche?

I.P.: Das hängt von den jeweiligen Ländern ab. In Frankreich ist sie weitgehend für den internen Gebrauch. In Grossbritannien ist die UKIP nicht die einzige euroskeptische Partei. Die Konservative Partei und ihre Wähler sind auch EU-kritisch.

In einigen Ländern, wie in Portugal oder Spanien, hat das Vertrauen in die europäischen Institutionen während der Krise gelitten, aber ohne, dass die rechtsnationalistischen Parteien davon profitiert hätten.

swissinfo.ch: Bringen diese Wahlen ein allgemeines Misstrauen gegenüber den europäischen Institutionen zum Ausdruck?

I.P.: Ja, aber das ist ein sehr kleiner gemeinsamer Nenner, und im neuen europäischen Parlament werden die Mitterechts- und die Mittelinks-Parteien weiterhin die entscheidende Rolle spielen, obwohl sie einige Sitze verloren haben.

swissinfo.ch: Während diesen Wahlen und während der Abstimmung über die «Masseneinwanderungs-Initiative» in der Schweiz haben einige nationalistische Bewegungen die Schweizer Fahne geschwungen. Hat die Schweiz in Bezug auf die Zunahme der euroskeptischen Welle eine Rolle gespielt?

I.P.: Ich glaube nicht, dass die Schweizer Politik bei der europäischen Wählerschaft so bekannt ist, als dass sie dieser als Modell gedient hätte. Aber einige dieser Parteien finden Gefallen am Schweizer Modell.

Obwohl die Referenden zu Fragen der europäischen Integration in den Mitgliedstaaten der EU nicht so häufig stattfinden wie in der Schweiz, sind sie doch in den letzten Jahren zahlreicher geworden. Und diese Referenden, sei es in Frankreich, den Niederlanden oder in Irland, zeigen eine gespaltene Gesellschaft wie in der Schweiz.

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swissinfo.ch: Erleben wir derzeit – wie in der Schweiz – eine Polarisierung der politischen Lager in Europa?

I.P.: Das glaube ich nicht. Erstens weil gewisse Systeme wie in Frankreich und Grossbritannien schon eine bipolare Basis haben. Zweitens erfahren nur wenige Länder eine starke Polarisierung, die wichtigsten Kräfte bleiben im rechten und linken Zentrum. Diese Parteien haben zwar einige Verluste zu verzeichnen, aber nicht dramatischer Art.

swissinfo.ch: Aber in Frankreich hat man sehr wohl einen Einbruch der traditionellen Parteien erlebt.

I.P.: In der Tat. Aber es handelt sich um europäische und nicht um nationale Wahlen, die keine direkte Wirkung auf die Regierungsbildung haben.

swissinfo.ch: Haben die Europa-Wahlen also eine Ventilfunktion?

I.P.: Das war immer der Fall. Die Politologen qualifizieren sie als zweitklassige Wahlen, wie übrigens regionale Wahlen. Die Abstimmung ist dort viel aussagekräftiger, und sie haben die Funktion eines Popularitätstests für die nationalen Regierungen. Das ist übrigens ein Problem, weil es vor allem um nationale und nicht um europäische Fragen geht, die dort erörtert werden.

Das heisst., dass sich die Situation in den letzten Jahren verändert hat. Diese Wahlen bleiben ein Mittel, um die nationalen Regierungen zu massregeln. Aber seit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise hat man auch über Europa gesprochen, und dies in erster Linie wegen der EU-kritischen Parteien.

swissinfo.ch: Gibt es andere Gründe als die Wirtschaftskrise, um dieses Wählerverhalten zu erklären?

I.P.: Die Angst vor einem Souveränitätsverlust spielt auch eine Rolle. Das Gefühl, dass die Entscheidungen weit entfernt von den Menschen getroffen werden, mit dem Hinweis auf die europäische Bürokratie, obwohl es sich um eine kleine Verwaltung handelt, die mit jener einer grossen Stadt vergleichbar ist. Es ist ähnlich wie in der Schweiz, wo viele Leute sagen: «Die da oben in Bern machen sowieso, was sie wollen.»

Aber nochmals: Die Motive des Wahlverhaltens unterscheiden sich von Land zu Land. In den Ländern Nordeuropas (Dänemark, Finnland), wo es populistische und ausländerfeindliche Bewegungen gibt, wollen viele Wähler nicht für die Länder des Südens bezahlen müssen. In Ungarn und Griechenland ist die extreme Rechte aus anderen Gründen stark. Sie hat dort infolge der Wirtschaftskrise und eines diffusen Nationalismus› Auftrieb erhalten.

Allgemein lässt sich sagen, dass die EU in den Ländern des Nordens angeprangert wird, um den eigenen Reichtum nicht zu verlieren, während viele Leute im Süden Brüssel die Schuld für den verlorenen Reichtum geben.

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swissinfo.ch: Welchen Einfluss haben die Europa-Wahlen auf die Schweiz? Ist die antieuropäische Schweizerische Volkspartei (SVP) in ihren Positionen gestärkt worden?

I.P.: Für die SVP ist es einfacher, eine Verwandtschaft mit der UKIP Grossbritanniens herauszustreichen, als mit dem französischen Front National. Die SVP hat kein Interesse, sich auf die Gesamtheit dieser nationalistischen und euroskeptischen Parteien zu berufen.

Ausserdem werden die Europa-Wahlen die europäische Landschaft nicht auf den Kopf stellen. Die Euroskeptiker bleiben eine Minderheit. Es handelt sich um eine heterogene Bewegung, die nicht zwangsläufig Alliierte findet. Das Gravitationszentrum des Parlaments bleibt links und rechts der Mitte.

Mit anderen Worten: Der allgemeine Tenor der EU gegenüber der Schweiz wird sich nicht ändern.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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