Nein zu Mindestlohn ist ein Ja zum freien Arbeitsmarkt
Nur ein knapper Viertel des Schweizer Stimmvolks hat die Mindestlohn-Vorlage gutgeheissen. Das ist eine schwere Niederlage für die Linke, die mehr Lohngerechtigkeit fordert. Der "höchste Mindestlohn der Welt" führte auch in der internationalen Presse zu einem grossen Echo.
Vor allem in Deutschland, wo eine hitzige Debatte um die Einführung eines Mindestlohns läuft, wurde breit über diese Vorlage berichtet. In Deutschland gilt ab dem nächsten Jahr ein Minimallohn von 8 Euro 50. Das sind etwas über 10 Franken. Da scheinen die 22 Franken Mindeststundenlohn, die von den Gewerkschaften gefordert wurden, hoch. Was in der weltweiten Presse kaum erwähnt wird, ist das hohe Preisniveau in der Schweiz.
Das Schweizer Stimmvolk habe nicht nur wegen der Höhe, sondern auch wegen der Starrheit des vorgeschlagenen Systems, das keinen Unterschied zwischen Branchen und Regionen zulasse, Nein gesagt, schreibt der Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) auf deren Internetseite.
Die Welt bezeichnete das Begehren als «populistisch» und titelt: «Die Schweiz hat sich richtig entschieden» – um gleichzeitig Stimmung gegen ähnliche Vorhaben in Deutschland zu machen. Die Bürger in der Schweiz hätten sich von den Experten überzeugen lassen.
Auch verschiedene italienische Zeitungen nahmen das Thema auf. Für La Stampa di Torino ist das Nein zu einem minimalen Monatslohn von 4000 Franken «sensationell». Wer die Schweiz gut kenne, für den sei diese Ablehnung nichts Aussergewöhnliches. In Sachen Arbeitsmarkt hätten sich die Schweizer immer sehr liberal geäussert, schreibt Il Sole 24 Ore.
«Ein Grossteil der Bevölkerung befürchtete, dass ein solcher Lohn die Arbeitslosigkeit, die in der Schweiz praktisch inexistent ist (3,2% im April), in die Höhe treiben könnte, schreibt lemonde.fr als Erklärung für die Abfuhr.
Die spanische Nachrichtenagentur EFE kommt zum Schluss, dass «sich die Schweizer traditionsgemäss zurückhaltend gegenüber Veränderungen oder Massnahmen äussern, welche die unternehmerische Freiheit einschränken oder die Wettbewerbsfähigkeit bedrohen könnten».
Rue89 relativiert als eines der wenigen Medien die Höhe des geforderten Stundenlohns von 22 Franken. Laut dem französischen Online-Magazin sagt diese Ziffer noch gar nichts aus. «In den Bergen kann man damit wie ein König leben, aber in Genf kann man mit dieser Summe nicht korrekt unterkommen».
Thema auch in Übersee
Die meisten Schweizer erachteten tiefe Löhne nicht als Problem – oder zumindest nicht als eines, welches der Staat lösen sollte, schreibt die New York Times zur Abstimmung. Der Hinweis, dass der geforderte Stundenlohn von 22 Franken deutlich über der von Präsident Obama geforderten Erhöhung auf 10,10 Dollar liegt, fehlte auch hier nicht.
Abgedeckt wurde die Mindestlohn-Initiative auch auf anderen namhaften Portalen, wie etwa dem Wall Street Journal, Financial Times oder The Guardian sowie weiteren, vor allem europäischen Newsseiten.
Der Kanton Wallis hat am Sonntag nicht nur den nationalen Mindestlohn von 4000 Franken abgelehnt, sondern auch eine kantonale Lohnuntergrenze von 3500 Franken. Das Stimmvolk verwarf eine kantonale Volksinitiative der Linksallianz mit 80,7% Nein-Stimmen (100’221 Nein zu 24’024 Ja). Die Stimmbeteiligung lag bei 61,4%.
Die nationale Mindestlohn-Initiative des Gewerkschaftsbundes für einen Mindestlohn von 4000 Franken wurde im Wallis mit 82,0% Nein-Anteil abgelehnt.
Mit der Walliser Mindestlohn-Vorlage hätten Branchen mit Gesamtarbeitsvertrag den Mindestlohn auch auf 3000 Franken senken können. Auch dieses Zugeständnis an die Weinbranche überzeugte die Walliser Stimmberechtigten nicht.
Damit bleiben Neuenburg und Jura die beiden einzigen Kantone, die kantonale Mindestlöhne angenommen haben. In beiden Westschweizer Kantonen wurde bei den Abstimmungen die Höhe des Mindestlohnes nicht festgelegt. Die Einführung steht noch aus
Staat soll sich nicht einmischen
Auch im Inland machte das Volks-Nein natürlich Schlagzeilen: Der Tages-Anzeiger und Der Bund begrüssen den Volksentscheid, denn der Mindestlohn müsse Verhandlungssache sein. «Er ist ein Plädoyer für liberale Arbeitsmarktbedingungen. Der Staat soll sich in die Verhandlungen zwischen Arbeitnehmerverbänden und Gewerkschaften auf der einen Seite und Arbeitgebern auf der anderen Seite nicht einmischen. Anständige Arbeitsbedingungen müssen in den Branchen und Betrieben errungen werden, notfalls über Warnstreiks und Arbeitsniederlegungen, wie es zuletzt die Assistenzärzte und die Bauarbeiter durchexerzierten.»
Dass ein Mindestlohn von 4000 Franken in der Schweiz abgelehnt wurde, sei keine Überraschung, meint der Genfer Le Temps.
Dass die Vorlage aber auch in Kantonen durchfiel, die sich bei kantonalen Abstimmungen für einen Mindestlohn ausgesprochen haben, erstaune dennoch.
Dass nur gerade 23,7 Prozent des Stimmvolkes Ja gesagt habe zur Mindestlohn-Initiative, sei ein Debakel, das sich nicht schönreden lasse, schreiben die Die Südostschweiz und die Aargauer Zeitung. «Das Volksbegehren, das einen (hohen) Mindestlohn über die ganze Schweiz stülpen wollte, ohne Rücksicht auf Unterschiede in Branchen und Regionen, war nie als mehrheitsfähiger Kompromiss angelegt. Die Niederlage war entsprechend kalkuliert, der Druck auf die reale Arbeitswelt zählte. Und trotzdem: Dass die Linke nicht einmal die eigene Wählerbasis von einem Ja überzeugen konnte, muss ihr zu denken geben.»
Das Resultat vom Sonntag sei ein weiterer Beleg dafür, dass die Schweiz bürgerlich ticke. «Linke Umverteilungs-Initiativen haben es an der Urne schwer. Die Botschaft des gestrigen Neins ist klar: Der Staat soll sich nicht in die Lohnpolitik einmischen. Gewerkschaften und Arbeitgeber sollen gemeinsam tragfähige Lösungen aushandeln – und gemeinsam Tieflöhne bekämpfen», schreiben die beiden Zeitungen.
«Die Stimmbevölkerung will die Löhne nicht dem Staat überlassen», heisst es in der Basler Zeitung. Arm sei in der Schweiz vor allem, wer keine Arbeit habe. Diesen Menschen bringe ein Mindestlohn nichts, ausser eine zusätzliche Hürde beim Einstieg in den Arbeitsmarkt. «Mindestlöhne sind für sie ein Bumerang mit gewerkschaftlicher Ohrfeige. Das Nein an der Urne ist ein Ja zu einem freien Arbeitsmarkt», so die BaZ.
Krasse Fehleinschätzung
Dass es in der Schweiz kein staatliches Lohndiktat geben werde, das den Mindestlohn auf weltweit rekordhohe 4000 Franken hochgeschraubt hätte, sei eine gute Nachricht, findet der Blick. «Das Schweizer Volk will kein starres Lohnkorsett, welches regionale Unterschiede wie auch individuelle Leistungsbereitschaft bei der Fixierung von Löhnen ausblendet. Dies ist auch ein klares Votum für einen flexiblen Arbeitsmarkt, bei dem die Lohnfindung den Sozialpartnern vorbehalten bleibt.»
Es sei auch eine Absage an die zentrale Steuerung von Löhnen in der Privatwirtschaft, schreibt das Boulevard-Blatt weiter. «Nicht einmal das Gros der eigenen Mitglieder mochte den Gewerkschaftsführern folgen. Dass diese einer derart krassen Fehleinschätzung unterliegen konnten, zeigt, wie weit sie sich von der eigenen Basis entfernt haben.»
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