Greta Gysin, die Umwelt im Blut – Soziales im Herzen
Greta Gysin ist die die erste Nationalrätin der Grünen aus dem Kanton Tessin. Die 36-jährige Politikerin und dreifache Mutter hat schon eine lange parlamentarische Karriere auf Gemeinde- und Kantonsebene hinter sich. Der Umweltschutz geniesst in ihrer Politik absolute Priorität; gleich danach folgen die Rechte der Arbeitnehmenden sowie der Lohnschutz. Zudem setzt sie sich für das E-Voting von Auslandschweizern ein.
Im vergangenen Oktober haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger der Schweiz das bisher weiblichste Parlament der Geschichte gewählt. Obwohl die Parität noch nicht erreicht ist, stellen Politikerinnen nun 42% im Nationalrat. Aus diesem Anlass porträtiert swissinfo.ch acht neu gewählte Frauen aus verschiedenen Parteien.
«Schon in meiner Kindheit hatte ich stets das Bedürfnis, klar meine Meinung zu sagen – dies natürlich im Rahmen des Respekts für die anderen», sagt Greta GysinExterner Link, die neue Nationalrätin aus dem Kanton Tessin, während des Gesprächs mit swissinfo.ch in einem Kaffeehaus im Hauptbahnhof von Zürich. Klarheit und Transparenz hat sie im Blut, Respekt von den Eltern gelernt und sich zu eigen gemacht.
«Mein Drang auf eine eigene Meinung hat sich während der Gymnasialzeit immer stärker in Politik verwandelt», erzählt sie. Die Diskussionen mit gleichaltrigen Freunden reichten ihr nicht aus. Sie wurde Teil des kantonalen JugendratsExterner Link.
Politik und Politwissenschaften
Es verwundert nicht, dass Gysin auch in ihrer akademischen Ausbildung diesen Weg fortsetzte: Sie studierte an der Uni Zürich Politikwissenschaften, zudem Soziologie und Geschichte. Nun sitzt sie seit Dezember 2019 im Nationalrat. Dabei kann sie bereits auf eine 11-jährige parlamentarische Erfahrung zurückblicken – auf Gemeinde- und Kantonsebene.
Doch die frischgebackene Nationalrätin relativiert diese Erfahrung selbst: «Es ist sicherlich nützlich, die unterschiedlichen Stufen der institutionellen Politik zu absolvieren, aber nicht unverzichtbar, denn es handelt sich am Ende doch um sehr unterschiedliche Realitäten.»
Das Eidgenössische Parlament sei eine äusserst professionelle Institution. «Der Unterschied zu einem Kantonsparlament ist gewaltig», betont Gysin, die im Dezember ihre erste Session im Parlament zu Bern absolviert hat.
Rascher Aufstieg
Auch wenn sie die Politik von Kindesbeinen an im Blut hatte, war es doch ein kleiner Zufall, dass sie bereits mit 21 Jahren in der institutionellen Politik landete. In der kleinen Tessiner Gemeinde RovioExterner Link, in der sie aufgewachsen ist, wurde sie von ihrem Nachbarn angefragt, ob sie nicht für den Gemeinderat kandidieren wolle. Man wollte mit ihrem Namen eigentlich nur die Liste mit Namen auffüllen, doch – zu ihrer grossen Überraschung – wurde sie tatsächlich gewählt.
Gysin entwickelte in Kürze eine grosse Leidenschaft für die Tätigkeit als Gemeinderätin. Und nur drei Jahre später erklimmte sie bereits die nächste Stufe: Sie wurde ins Kantonsparlament (Grosser Rat) gewählt.
Gysin politisiert für die Grünen; im Jahr 2009 gründet sie die Jungpartei der Grünen im Tessin und wird auch zur Koordinatorin der Jungen Grünen Schweiz gewählt. Damals hätte sie sich nicht träumen lassen, zehn Jahre später in den Nationalrat gewählt zu werden.
Respektierte Gegnerin
Im Tessin wird sie für ihre parlamentarische Arbeit und ihr Engagement geschätzt, auch in politischen Lagern, die das Heu mit ihr nicht auf der gleichen Bühne haben. «Abgesehen von den ideologischen Unterschieden, die uns deutlich trennen, habe ich sie immer geschätzt, weil sie eine intelligente, kompetente, gut vorbereitete und entschiedene Politikerin ist», sagt der christdemokratische Nationalrat Fabio Regazzi, der früher ebenfalls im Kantonsparlament aktiv war.
Ähnlich äussert sich der freisinnige Alt-Kantonsrat Edo Bobbià: «Obwohl unsere politischen Positionen weit auseinanderlagen, habe ich sie als eine fähige und entschlossene Politikerin in Erinnerung, die auch Verständnis für die Argumente der Gegenseite zeigte.»
Im Jahr 2014 wird sie erstmals Mutter. Ihr Sohn Enea wird geboren. Im Jahr darauf verzichtet sie auf eine erneute Kandidatur für den Grossen Rat. Im Jahr 2017 kommen Zwillinge zur Welt, Ada und Lelia. Der Mittelpunkt ihres Familien- und Berufslebens liegt mittlerweile in Zürich, aber ihre Beziehungen zum Tessin bleiben stets sehr eng.
Triumphale Rückkehr
2019 dann die triumphale Rückkehr in die Politik. Nachdem sie lange über eine Kandidatur für die Nationalratswahlen auf der rot-grünen Liste nachgedacht hatte, entscheidet sie sich schliesslich dafür. Und sie wird gewählt. Es ist ein historisches Ergebnis für die Linken und Grünen im Tessin.
Greta Gysin wird als erste Grüne aus dem Kanton Tessin in die Grosse Kammer gewählt. Gleichzeitig wird Marina Carobbio Guscetti als erste sozialdemokratische Frau aus dem Tessin in den Ständerat gewählt. Das rot-grüne Tandem wirft zwei altgediente Politiker aus dem Parlament: Lega-Nationalrätin Roberta Pantani sowie den langjährigen CVP-Ständerat Filippo Lombardi.
Ihr Name war im Tessin schon lange bekannt, bevor Greta Thunberg in Erscheinung trat. Den Vornamen der schwedischen Aktivistin brauchte sie also nicht, um Aufmerksamkeit zu erregen. Es war eher ein Zufall, dass sie sich im Jahr der globalen Klimaschutzbewegung als Grüne zur Wahl stellte.
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Manche Medien scherzten mit dem Namen der «Schweizer Greta» oder der «Tessiner Greta». Sie selbst reagierte mit Ironie und nutzte den Namen für ihre Wahlkampagne, dem sie den Slogan gab: «Greta? Gysin!»Externer Link
Umwelt und Sozialpolitik
Sowohl als Kantonsrätin als auch als Gewerkschafterin kümmerte sich Gysin stets um Fragen des Lohnschutzes und um die Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmenden. Es sind Themengebiete, die auch von den Sozialdemokraten bewirtschaftet werden. Warum also hat sich Gysin den Grünen angeschlossen und nicht der SP?
«Weil für mich Umweltfragen die oberste Priorität haben», antwortet sie. Erst an zweiter Stelle kämen die sozialen Dossiers. «Für die SP ist es hingegen genau umgekehrt», fügt sie an. Präzisiert aber zugleich, dass für sie beide Themen eng miteinander verbunden seien.
Sie setzt sich dafür ein, dass alle Personen genügend Mittel haben, um biologische und lokal erzeugte Lebensmittel zu kaufen. «Aber ich kann verstehen, dass bestimmte Leute, die finanziell Mühe haben, sich nicht um solche Fragen kümmern», räumt sie ein.
Gysin war beruflich in beiden Themenfeldern aktiv. In ihrem ersten Job kümmerte sie sich als Projektleiterin um erneuerbare Energien. Vor vier Jahren wechselte sie dann zur Gewerkschaft TransfairExterner Link, dem Schweizer Personalverband für den Service Public. Ihre Arbeitsstelle in Zürich kündigte sie auf Ende 2019, um sich ganz auf ihr Mandat als Nationalrätin konzentrieren und wieder im Tessin leben zu können.
Priorität Klimanotstand und EU-Rahmenabkommen
In Bezug auf die Themen, die das Parlament in dieser Legislaturperiode beraten wird, geniesst das CO2-Gesetz «absolute Priorität». Das Klimaproblem sei das zurzeit wichtigste Problem. Ihrer Meinung nach muss man sofort den Einbau von Ölheizungen verbieten.
Zudem müsste man dann viel dezidierter das Problem der Mobilität anpacken und das Netz des öffentlichen Nahverkehrs ausbauen, besonders in Randgebieten. «Sobald ein gutes ÖV-Angebot besteht, müssen wir Massnahmen finden, um den individuellen Motorfahrzeug-Verkehr einzuschränken», sagt sie. An einer Erhöhung des Benzinpreises ginge dann wohl kein Weg vorbei.
Ebenfalls am Herzen liegt ihr das institutionelle Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU): «Dieses Abkommen muss neu ausgehandelt werden.» Sicherlich bräuchte es auch ein Entgegenkommen der Schweiz gegenüber der EU: «Man kann nicht nur geben, sondern muss auch nehmen.»
Man müsse das richtige Gleichgewicht finden. Doch die Lohnschutzmassnahmen dürften nicht aufgeweicht werden. «Diese sind fundamental für den bilateralen Weg, denn nur dank diesen hat das Schweizer Stimmvolk den bilateralen Verträgen überhaupt zugestimmt.»
Überzeugt vom E-Voting
Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer haben in Greta Gysin eine Verbündete, wenn es um das E-Voting geht. Mit einer 2009 eingebrachten MotionExterner Link war sie im Tessin die erste Parlamentarierin, welche die elektronische Stimmabgabe forderte.
Auch heute ist sie nach wie vor davon überzeugt, auch wenn sie in ihrer eigenen Partei damit gegen den Strom schwimmt. «Ein sicheres E-Voting-System sind wir den Auslandschweizern schuldig», sagt die grüne Nationalrätin.
Ein funktionierendes System für die Auslandgemeinde könne künftig vielleicht auch auf das Inland ausgeweitet werden – mit Vorteilen für alle Wahlberechtigten. Der Bund muss ihrer Meinung nach endlich die nötigen Mittel bereitstellen, um eine sichere E-Voting-Lösung zu erarbeiten. «Es ist eine Frage des politischen Willens», so Gysin.
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(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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