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Lilian Studer will in Bern christliche Schweizer Werte verteidigen

Lilian Studer
Die frisch gewählte Lilian Studer im Vorzimmer des Nationalratssaals während der ersten Parlamentssitzung. Thomas Kern/swissinfo.ch

Sie ist die neue Abgeordnete der Evangelischen Volkspartei unter der Bundeshauskuppel. Die Aargauerin Lilian Studer. Die 42-jährige Schweiz-Norwegerin will sich für die am stärksten Benachteiligten und die Umwelt engagieren und gleichzeitig eine konservative Vision der Gesellschaft verteidigen. Ein Porträt.

Im vergangenen Oktober haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger der Schweiz das bisher weiblichste Parlament der Geschichte gewählt. Obwohl die Parität noch nicht erreicht ist, stellen Politikerinnen nun 42% im Nationalrat. Aus diesem Anlass porträtiert swissinfo.ch acht neu gewählte Frauen aus verschiedenen Parteien.

Wir treffen uns Anfang Dezember in einer kleinen italienischen Bar nur einen Steinwurf vom Bundeshaus entfernt. Lilian StuderExterner Link hat eben erst ihren vierten Tag als neue Nationalrätin hinter sich. Ihre heisere Stimme lässt bereits auf eine gewisse Müdigkeit schliessen.

«Es gibt viel, an das man sich gewöhnen muss. Die parlamentarischen Prozeduren sind manchmal komplex. Und ich werde von allen Seiten für etwas angefragt. Aber ich werde diese Woche der Vereidigung in Bern nie vergessen», sagt Studer, während sie an einem Mineralwasser nippt.

Doch eine Polit-Novizin ist sie bei weitem nicht. Fast 18 Jahre lang sass sie im Aargauer Parlament, in das sie bereits im Alter von 24 eingetreten war. Damals war sie die jüngste Frau der kantonalen Legislative.

Dort kämpfte sie erfolgreich für ein Gesetz, das die Gemeinden im Aargau verpflichtet, ausserfamiliäre Kinderbetreuungs-Einrichtungen zu schaffen. Auch die Palliativ- und Schwerstkrankenpflege gehören zu den Schwerpunkten von Studer. Themen, die sie nun auch auf Bundesebene verteidigen will.

Wie der Vater, so die Tochter

Bei den Studers wird das Politik-Virus von Generation zu Generation weitergegeben. Ihr Vater Heiner StuderExterner Link ist im Aargau eine bestens bekannte Persönlichkeit. Er war von 1999 bis 2007 Mitglied des Nationalrats. Wie er ist auch seine Tochter Mitglied der Evangelischen VolksparteiExterner Link (EVP), einer kleinen, Partei mit protestantischen Wurzeln, die letztes Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feierte.

Heiner und Lilian Studer
Heiner und Lilian Studer, ein Vater und eine Tochter, verbunden durch ihre Leidenschaft für die Politik. Keystone / Patrick B. Kraemer

«Am Familientisch wurde nicht so viel über die Politik gesprochen. Andererseits gab mein Vater uns bald mit, sich für die Menschen und das Geschehen in der Gesellschaft zu interessieren und uns dafür einzusetzen», sagt Studer.

Eine kleine protestantisch geprägte Partei

Die 1919 in Zürich gegründete Evangelische Volkspartei (EVP) ist vor allem in protestantischen Kantonen der Deutschschweiz aktiv. Ihre Mitglieder sind traditionell mit der reformierten Landeskirche oder mit Freikirchen verbunden.

Gegenwärtig hat die EVP drei Abgeordnete im Nationalrat. Zusammen mit den Abgeordneten der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) und der Bürgerlich-Demokratischen Partei (PBD) bilden diese Drei im Parlament die Mitte-Fraktion.

Vater und Tochter scheinen eine gute Beziehung zu pflegen. Noch heute lebt die Neugewählte im selben Haus wie ihre Eltern in Wettingen, einer Aargauer Gemeinde rund 20 Kilometer Luftlinie von Zürich entfernt.

Der Gemeinsamkeiten gibt es aber noch mehr: Wie ihr Vater vor ihr, hat sie eine Führungsposition bei dem Blauen KreuzExterner Link, einer Organisation, die alkoholabhängigen Menschen hilft.

«Durch die Wahl werde ich immer wieder auf meinen Vater angesprochen, was auch zu viel werden kann. Zu Beginn meiner politischen Karriere war dies einfacher, da man mich nicht sofort als Tochter erkannte, trotz seiner Tätigkeit als Nationalrat. Ich erhalte aber über ihn für seine Verdienste und Glaubwürdigkeit positive Rückmeldungen, wie zum Glück auch immer wieder über mich», sagt die Politikerin.

Norwegische Spontaneität

Lilian Studer ist aber auch stark geprägt durch die norwegische Herkunft, die sie von ihrer Mutter geerbt hat. Das Skandinavische zeigt sich in der Beherrschung des Norwegischen und ihrer Erscheinung – schlanke Figur, platinblondes Haar und blau-graue Augen –, aber auch in ihrer Persönlichkeit.

«Ich bin zum Beispiel sehr spontan. In Norwegen kann man Verwandte oder Freunde besuchen, ohne dass man die Agenda zücken muss, um ein Datum zu finden, das vielleicht in zwei Monaten passt», erläutert sie.

«Die bilateralen Abkommen sind für die Schweiz extrem wichtig. Ich spreche mich vehement für die Unterzeichnung eines Rahmenabkommens mit der Europäischen Union aus.»

Durch ihre doppelte Herkunft erbte Studer auch einen weltoffenen Geist, was im Kanton Aargau nicht selbstverständlich ist. Seit 1991 dominiert dort die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP). «Die bilateralen Abkommen sind für die Schweiz extrem wichtig. Ich spreche mich vehement für die Unterzeichnung eines Rahmenabkommens mit der Europäischen Union aus. Auch wenn noch Anpassungen an dem aktuell auf dem Tisch liegenden Projekt erforderlich sind», sagt sie.

Rechte für die Diaspora

Durch häufige Aufenthalte in Norwegen und zwei freiwillige Einsätze in Honduras und Venezuela wurde Studer auch mit den Themen vertraut, die den Schweizerinnen und Schweizern im Ausland am Herzen liegen. «Ich bin für die Einführung des E-Votings, verstehe aber, dass die Regierung so lange zuwarten will, bis die Sicherheitsprobleme gelöst sind», betont sie.

Die Neugewählte verteidigt die politischen Rechte der Fünften Schweiz hartnäckig, die manche in Frage stellen. «Viele Schweizerinnen und Schweizer gehen für ein oder zwei Jahre ins Ausland. Es ist wichtig, dass sie in der Lage sind, an Entscheiden mitzuwirken, die sie nach ihrer Rückkehr betreffen.»

Studer begrüsst auch die Ausdehnung des Wahlrechts und der Wählbarkeit für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer für den Ständerat. Dafür sprach sich das Aargauer Stimmvolk 2018 aus. Bis da konnte die aargauische Auslandgemeinde nur Abgeordnete des Nationalrats wählen.

Ökologisch und «feministisch»

Das politische Profil StudersExterner Link zeigt in vielen Bereichen eine Tendenz gegen links. «Ich bin eine Mitte-Politikerin, aber mein Herz schlägt tatsächlich ein wenig linker, wenn es um Soziales oder Umweltthemen geht», sagt sie.

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Auch wenn sie den Begriff feministisch nicht so sehr mag – «Ich engagiere mich zuallererst für den Menschen, egal welchen Geschlechts» – steht die EVP-Nationalrätin klar für die Gleichstellung der Geschlechter ein.

«In diesem Bereich stelle ich einen Unterschied zwischen meinen beiden Herkunftsländern fest. Ich hoffe, dass es auch in der Schweiz eines Tages selbstverständlich wird, dass eine Frau Karriere machen und ihre Talente ausdrücken kann, ohne systematisch daran gehindert zu werden.» Sie sei im Parlament bereit, für Regeln zu stimmen, sollten die Unternehmen in Sachen Lohngleichheit nicht schneller handeln.

«Ich hoffe, dass es auch in der Schweiz eines Tages selbstverständlich wird, dass eine Frau Karriere machen und ihre Talente ausdrücken kann, ohne systematisch daran gehindert zu werden.»

Besuche beim ICF

Seit 20 Jahren besucht die Aargauerin gelegentlich die Gottesdienste des International Christian FellowshipExterner Link (ICF), einer freien evangelischen Megakirche, die jeden Sonntag in den Vororten von Zürich Tausende von begeisterten Gläubigen versammelt. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass sie in Sachen Abtreibung, Suizidhilfe oder Drogenpolitik konservative Ansichten vertritt.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder Westeuropas, in denen die Ehe für alle noch nicht legalisiert ist. Das Parlament wird dem wohl bald ein Ende setzen. Doch das wird möglicherweise ohne die Unterstützung von Lilian Studer über die Bühne gehen.

«Ich muss die definitive Vorlage noch aufmerksam studieren, und dann gibt es noch eine Diskussion innerhalb der Partei», umgeht sie eine konkrete Antwort geschickt, wie das erfahrene Politikerinnen und Politiker zu tun pflegen.

Ein Platz für die Kirche

Die Anerkennung des Islams durch den Staat findet bei der Aargauer Politikerin dann Gehör, wenn gewisse Regeln befolgt würden. Sie verweist auf die Charta der Religionsgemeinschaften, welche die EVP kürzlich vorgestellt hat. «Doch die Muslime müssen zwingend in jenen Ländern, in denen Sie in der Mehrheit sind, die Religionsfreiheit der Christen respektieren», betont sie.

Trotz der immer ausgeprägteren Säkularisierung der Gesellschaft ist Studer der Meinung, dass die Kirche in der Schweiz immer noch eine sehr wichtige Rolle spiele, namentlich wegen der vielen sozialen Einrichtungen, die mit ihr verbunden seien.

Auf ihrem Twitter-KontoExterner Link teilte sie kürzlich Kritiken, die nach dem Entscheid einer St. Galler Schule gepostet worden waren. Diese hatte religiöse Lieder aus dem Programm genommen, um Kinder anderer Konfessionen nicht zu verletzen. «Es ist wichtig, dass die Schweiz ein christliches Land bleibt und die christlichen Werte stark bleiben», sagt Studer.

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(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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