Ein Secondo im Nationalrat als Hoffnungsträger für Immigranten
Angelo Barrile (40) wuchs in der Schweiz in bescheidenen Verhältnissen in einer sizilianischen Einwanderfamilie auf. Er wurde Arzt und im Oktober 2015 als Kandidat der SP auf Anhieb in den Nationalrat gewählt. Das hat Seltenheitswert. Seine Wahl sieht Barrile als Zeichen für alle Ausländer der zweiten und dritten Generation, sich politisch zu beteiligen.
Der Treffen mit Angelo BarrileExterner Link findet auf einer der vielen «kleinen italienischen Inseln» im Kreis 5 von Zürich statt – in einer Gelateria mit Konditorei, deren Köstlichkeiten uns im Geiste bereits in den Süden versetzen.
Die Kreise 4 und 5 sind bekannte und beliebte Quartiere der Limmatstadt. Hier atmet man die Geschichte der Industriestadt Zürich, auch wenn letztlich nur sehr wenige Industriebetriebe verblieben sind.
Angelo Barrile ist nicht im Kreis 5 aufgewachsen. Er kam 2003 wegen einer neuen Arbeitsstelle nach Zürich. «Ich fand auch eine Wohnung in der Nähe. Anfänglich dachte ich, dass ich nur kurz in Zürich bleiben würde. Doch dann hat es mir so gut gefallen, dass ich nun keinerlei Absicht mehr habe, von hier wegzuziehen.»
In diesem Quartier leben Einwohner unterschiedlicher Nationalitäten. Das Nachtleben ist intensiv. «Wer Ruhe sucht, sollte vielleicht besser nicht hier leben. Der Kreis 5 ist aber wohl nicht zufällig der linkste Wahlkreis der ganzen Schweiz. Die Leute, die hier leben, sind sehr offen gegenüber der Welt und gegenüber neuen Ideen“.
Neu im Parlament
Die Tochter von Christoph Blocher, ein kommunistischer Gemeindepräsident, der Chef der Weltwoche, eine junge Grüne: swissinfo.ch publiziert eine Auswahl von Porträts neuer Abgeordneter, die bei den Wahlen vom 18. Oktober 2015 ins Parlament gewählt wurden. Entdecken Sie diese neuen Gesichter unter der Bundeshauskuppel, seien es Vertreterinnen oder Vertreter von Regierungsparteien oder kleiner Gruppierungen.
Damals waren wir die Tschinggeli»
Der Kontrast zum Dorf Pfungen bei Winterthur, wo Barrile aufwuchs, könnte grösser kaum sein. «Mein Vater war in den 1960er-Jahren gekommen, meine Mutter in den 1970er-Jahren. Sie haben sich erst in der Schweiz kennengelernt, obwohl sie aus dem gleichen Dorf in Sizilien stammen, aus Pietraperzia in der Provinz Enna. Mein Vater arbeitete in einer der beiden Fabriken in Pfungen, meine Mutter in einer Wäscherei des Spitals», erzählt Barrile.
Zu Hause in der Familie sprach man nur Italienisch, doch Angelo Barrile hatte Glück, schnell auch Schweizerdeutsch zu lernen: «Da meine Eltern berufstätig waren, war ich tagsüber bei einer Tagesmutter. Und als ich in den Kindergarten kam, sprach ich bereits gut Schweizerdeutsch.»
Die Ära Schwarzenbach (benannt nach Nationalrat James Schwarzenbach, der mit Volksinitiativen die Zuwanderung beziehungsweise «Überfremdung» begrenzen wollte) war in der Kindheit von Barrile bereits vorbei. Doch Überbleibsel dieser Epoche waren geblieben. «Wir Italiener waren immer noch die Tschingelli (ein Schimpfwort, das die Deutschschweizer für die Italiener verwendeten). Ich habe darunter nicht gelitten. Aber ich begann zu merken, dass wir ein wenig anders waren. In der Freizeit blieben wir unter uns, die anderen luden uns nicht ein.»
Das Leben von Angelo Barrile wäre ohne seinen Primarschullehrer möglicherweise ganz anders verlaufen. «Die Aufgabe der Italiener in der Schweiz war zu arbeiten. Mein Lehrer überzeugte mich am Ende der Primarschulzeit, die Aufnahmeprüfungen fürs Gymnasium zu machen. Ich wollte das gar nicht. Ich dachte, es handle sich um eine Schule für reiche Leute. Doch er sagte mir, ich sei der beste Schüler der Klasse. Und wer, wenn nicht ich, könne das Gymnasium besuchen? Ich machte die Aufnahmeprüfung und schaffte es. Einige Kollegen fanden das gut, andere weniger. Sie taten so, als ob ich ihnen den Platz gestohlen hätte. Damals habe ich zum ersten Mal verstanden, was Rassismus bedeutet.»
Einstieg in die Politik
Während der Gymnasialzeit wurde er vom «Politik-Virus» infiziert. «Ich ärgerte mich, weil ich nicht abstimmen konnte. Gleich nach der Matura habe ich einen Antrag auf Einbürgerung gestellt. Der Tag, an dem ich den Brief erhielt, dass meinem Antrag stattgegeben worden war, war einer der schönsten Tage meines Lebens. Zum ersten Mal fühlte ich mich wirklich akzeptiert.“
Der Beitritt zur Sozialdemokratischen Partei (SP) kam für Barrile wie von selbst. «Zu Hause sprachen wir eigentlich nie über Politik. Meine Eltern haben mir jedoch die Ideale einer auf Gleichheit basierenden und vorurteilsfreien Gesellschaft vermittelt.»
Es folgte ganz natürlich das Studium der Medizin. «Ich habe mich auch für einige andere Fächer interessiert, aber schnell begriffen, dass Medizin mein Weg war.» 10 Jahre arbeitete er als Assistenzarzt in einem Spital, davon sechs Jahre in der Psychiatrie. Dann kehrte er zur Hausmedizin zurück. Seit vier Jahren arbeitet er zusammen mit weiteren Ärzten in einer Gruppenpraxis in Zürich: «Der direkte Kontakt mit den Patienten gefällt mir und spornt mich an. Ich habe Patienten in allen Alterskategorien: Von 14 bis 100 Jahren.»
Da er während des Studiums arbeiten musste, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen – unter anderem als Handy-Verkäufer -, blieb praktisch keine Zeit für politische Aktivitäten.
Überraschende Wahl
Sein erstes parteipolitisches Amt kam dann ein wenig überraschend. Im Jahr 2010 folgt er als Ersatzkandidat auf eine zurückgetretene Kollegin im Zürcher Kantonsrat. Er wird Mitglied der Gesundheitskommission in der kantonalen Legislative. Er bringt seine Erfahrungen und Kompetenzen als Arzt ein. Und dafür bekommt er sogar Lob von der politischen Gegenseite.
«Für unsere Kommission ist es schade, dass wir ihn verlieren», erklärte FDP-Kantonsrätin Linda Camenisch der «Limmattaler Zeitung», nachdem Barrile im vergangenen Oktober in den Nationalrat gewählt worden war. Auch diese Wahl kam übrigens ein wenig überraschend. «Es ist äusserst selten, dass man gleich gewählt wird, wenn man zum ersten Mal für den Nationalrat kandidiert», hält Barrile fest.
«Secondo» und homosexuell
Doch der Erfolg gebührt nicht nur ihm allein. «Meine Eltern haben Hunderte von Anrufen und Glückwünschen aus der italienischen Diaspora erhalten. Während des Wahlkampfs wurde ich nicht nur von der Gemeinschaft der Italiener unterstützt, sondern auch von anderen Emigrantenvereinigungen.»
Die Tatsache, dass ein «Secondo» – wie Kinder von Emigranten in der Schweiz genannt werden – ins nationale Parlament gewählt wurde, ist ein starkes Zeichen für die ganze Gemeinschaft der Immigranten. «Es ist wie eine Aufforderung an die Ausländer der zweiten und dritten Generation, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich einzubringen», betont Barrile.
Was ich erreicht habe, ist kein persönlicher Sieg von mir, sondern von allen, die sich schon früher dafür eingesetzt haben, dass Personen wie ich akzeptiert werden.
Im Laufe des Wahlkampfs haben einige Zeitungen noch einen anderen Aspekt seiner Person betont: Die Homosexualität. «Ich habe diese nie versteckt. Seit 18 Jahren habe ich den gleichen Partner. Doch ich habe nie ein politisches Thema daraus gemacht. Gleichheit ja, aber nicht die Homosexualität. Innerhalb der Partei war das auch nie ein Problem. Vor 30 oder 40 Jahren wäre dies vielleicht anders gewesen. Man stelle sich vor: Ein Italiener und Homosexueller wäre gewählt worden. Was ich erreicht habe, ist kein persönlicher Sieg von mir, sondern von allen, die sich schon früher dafür eingesetzt haben, dass Personen wie ich akzeptiert werden.»
Staatsbürgerschaft und Immigration
Im Gegensatz zum Zürcher Kantonsparlament wird Barrile in Bern seine Kompetenzen als Arzt nicht in die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit einbringen können. «Diese Kommission war meine erste Wahl, doch sie ist unter den Nationalräten sehr begehrt. Nun bin ich Mitglied in der staatspolitischen Kommission. Das war meine zweite Wahl. Dort geht es um mir wichtige Themen wie Staatsbürgerschaft, Asyl und Immigration.»
Angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse im Parlament mit einer Verschiebung nach rechts dürfte die Legislatur für die Linke schwierig werden: «Aus meiner Sicht werden es keine tollen vier Jahre werden.»
Barrile möchte auf alle Fälle seine eigene Lebenserfahrung einbringen, «um Ideologien zu bekämpfen, die alle in einen Topf werfen». Damit meint er insbesondere die Durchsetzungsinitiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer, über die am 28.Februar abgestimmt wird. «Mich ärgert es sehr, dass häufig vergessen wird, dass viele Probleme nicht mit der Immigration, sondern mit dem sozialen Hintergrund einer Person zusammenhängen», fügt er an.
Barrile hat keine idealisierende Vision der Immigration. «Es gibt immer positive und negative Seiten. Von den Einwanderern wird erwartet, dass sie sich der Kultur des Landes anpassen. In den 1960er- und 1970er-Jahren waren die Italiener aber «Gastarbeiter», was bedeutet, dass sie nur eine bestimmte Zeit hätten bleiben sollen, das heisst nur solange sie gebraucht werden. Integration war damals nicht gewollt. Mein Vater spricht im Übrigen heute noch schlecht Deutsch. Inzwischen verlangt man von den Ausländern, dass sie sich integrieren. Aber es ist nicht immer leicht.»
Gerne wird zudem vergessen, dass jede Epoche ihre «Italiener» hat. «Vor einiger Zeit habe ich einen Text gelesen, in dem sinngemäss Folgendes stand: ‹Diese Immigranten können sich nicht integrieren, weil sie unsere Frauen schräg anschauen, Krankheiten mitbringen, sich nicht anpassen und kriminell sind’… Der Text stammte aus dem 19. Jahrhundert und war von einem Zürcher geschrieben worden. Er beklagte sich über die Einwanderer, die aus katholischen Kantonen gekommen waren, um hier zu arbeiten….»
Als Sohn einer italienischen Arbeiterfamilie wuchs Angelo Barrile – Jahrgang 1976 – in Pfungen nahe Winterthur (Kanton Zürich) auf. Die Eltern waren von Sizilien Anfang der 1970er-Jahre in die Schweiz ausgewandert. Barrile hat viele Verwandte in Sizilien und ist der ursprünglichen Heimat der Familie eng verbunden: «Mindestens eine Woche pro Jahr bin ich in Sizilien.» Angelo Barrile hat Medizin studiert, ist Hausarzt und arbeitet in einer Gruppenpraxis in Zürich.
Seine parlamentarische Karriere begann 2010, als er als Ersatzkandidat für eine zurückgetretene Kollegin in den Kantonsrat des Kantons Zürich nachrutschte. Barrile ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (SP). Im Oktober 2015 wurde er in den Nationalrat (Volksammer) gewählt.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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