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Neue Bremse gegen Zubetonierung des Landes

Die stetige Überbauung zersiedelt zunehmend die Landschaft. Keystone

Nach Annahme der Zweitwohnungs-Initiative könnte die Zersiedelung noch mehr begrenzt werden. Das Parlament hiess eine Gesetzesänderung zur Einschränkung der Bauzonen gut. Eine Antwort auf eine Initiative zum Einfrieren der Bauzonen für 20 Jahre.

Während der Kampagne für die Volksinitiative gegen den Zweitwohnungsbau wurde viel über Zubetonierung der Bergregionen gesprochen. Aber auch im Flachland wird enorm viel gebaut.

Ein Besucher der Schweiz könnte die Schweiz als eine reisige Baustelle wahrnehmen. Überall oder fast überall spriessen neue Bauten – namentlich Einfamilienhäuser – wie Pilze aus dem Boden.

Bauboom

Nur ein Eindruck? Nein, die Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) sprechen für sich: 2011 wurden 67’750 neue Wohnungen gebaut, 2% mehr als im Vorjahr. Und seit 2004 entstehen jährlich 10’000 Einfamilienhäuser.

Der Bauboom erklärt sich zum grossen Teil historisch durch die tiefen Hypothekarzinse in der Schweiz. Sie sind derart tief, dass die Rückzahlung eines Kredites oft günstiger zu stehen kommt als das Bezahlen einer Miete.

«Alles fördert den Bauboom. Er wird auch durch ein Gesetz gefördert, wonach man das Altersvorsorgegeld zum Kauf von Wohneigentum verwenden kann. Überdies gab es eine zu wenig aktive Wohnpolitik. Viele Leute, die bauen, tun dies, weil sie keine andere Möglichkeit finden», sagt Pierre Alain-Rumley, Professor für Raumplanung und Urbanistik an der Universität Neuenburg, gegenüber swsissinfo.ch.

10 Fussballfelder pro Tag

Die Umweltschutz-Bewegungen verurteilen diese Zubetonierung und Zersiedelung des Landes. Sie weisen darauf hin, dass in der Schweiz ein Quadratmeter Grünfläche pro Sekunde – täglich rund 10 Fussballfelder – unter Strassen, Einkaufszentren, Parkplätzen und Häusern verschwinden und Dorf- und Stadtränder ins Land hinaus fransen würden.

Um diese Entwicklung zu bremsen, haben sie 2007 ein Volksbegehren lanciert: die Landschaftsinitiative. Die Hauptforderung: Während der nächsten 20 Jahre sollen die Bauzonen in der Schweiz eingefroren werden.

Für Philippe Roch, ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Umwelt und Mitglied des Initiativkomitees, ist es dringend, jetzt zu handeln. «Man spricht seit 40 Jahren von dem Quadratmeter Grünfläche, der jede Sekunde verbaut wird», sagt er gegenüber swissinfo.ch. «Aber die Situation hat sich nicht verändert, Der Grad der Zerstörung ist zu hoch.»

Die Schweizer Regierung und die Mehrheit des Parlamentes lehnen die erfolgreich eingereichte Initiative der Umweltschützer ab, da sie als zu extrem und zu wenig flexibel betrachtet wird. Deshalb haben Regierung und Parlament einen indirekten Gegenvorschlag erarbeitet in Form einer Revision des Bundesgesetzes über die Raumplanung.

Die Gesetzesrevision schlägt vor, dass die künftigen Bauzonen den Bedarf der nächsten 15 Jahre nicht überschreiten. Bereits existierende, überdimensionierte oder schlecht gelegene Bauzonen könnten sogar auf das gesetzliche Mass verkleinert werden. Eine zweite wichtige Massnahme der Revision betrifft die Besteuerung. Die Besitzer, deren Boden infolge einer Umzonung an Wert gewinnt, müssen eine Steuer bezahlen, die im Minimum 20% des Mehrwerts ausmacht. Das Steuergeld soll zur Finanzierung von Umzonungen verwendet werden.

Genügend Land

Die Schweiz hat immer mehr Einwohner: Die Zahl der Bevölkerung liegt bei knapp 8-Millionen. Wäre es unter diesen Bedingungen nicht schädlich, die Bauzonen einzuschränken oder einzufrieren? Nicht unbedingt, denn es gibt für mehrere Jahre genügend bebaubares Land. «Gegenwärtig gibt es in der Schweiz 58’000 Hektaren Bauzonen, die nicht bebaut sind», erklärte der freisinnige Nationalrat Jacques Bourgeois währed der Parlamentsdebatte.

Pierre-Alain Rumley bestätigt: «Viel Land wurde in den 1970er-Jahren zu Bauzonen erklärt, und heute erben wir, was man damals getan hat. Und seither gabe es noch Ausweitungen der Bauzonen.» Das heisse allerdings nicht, dass es auch zu spürbarer Knappheit kommen könnte. «Theoretisch gibt es genügend Bauzonen. Wenn man nur die Quantität des zur Bebauung zur Verfügung stehenden Landes berücksichtigt, dann kann der Bedarf in den nächsten 20 Jahren gedeckt werden. Aber es gibt ein Problem der Anhäufung eines nicht unbedeutenden Teils von Land, das die Besitzer weder verkaufen noch bebauen wollen.», so Rumley.

Für die Umweltschützer lautet die Lösung verdichtetes Bauen. «Die jährlich 70’000 mehr Einwohner in der Schweiz sollen nicht irgendwohin verteilt werden», sagt Philippe Roch. «Wir müssen versuchen, die Städte etwas zu verdichten und behagliche Wohnungen zu bauen. Bevor wir das Problem des Wachstums an die Hand nehmen, sollten wir das tägliche Leben so organisieren, dass wir ein Maximum an Raum und Lebensqualität bewahren können.»

Professor Rumley teilt die Ansicht, dass die Verdichtung eines der Schlüsselprobleme ist, aber nicht unbedingt in den Städten. «Die Verdichtung in den Stadtzentren findet bereits statt. Man müsste die Vorstädte, die sogenannten Agglomerationen, verdichten können. Man könnte sich sogar vorstellen, die Einfamilienhaus-Zonen zu verdichten. Man könnte die Parzellenflächen verkleinern und versuchen, darauf einen zweiten Bau oder einen zweiten kleinen Bau zu erreichten, beispielsweise für ein Paar, dessen Kinder ausgezogen sind.

Möglicher Rückzug der Landschaftsinitiative

Die Landschaftsinitiative kommt möglicherweise nie vors Volk. «Falls das Parlament die Gesetzesrevision definitiv unter Dach bringt, wird die Initiative zurückgezogen», erklärt Otto Sieber, Zentralsekretär von Pro Natura und Präsident des Trägervereins «Ja zur Landschaftsinitiative».

Andere Mitglieder des Initiativkomitees geben sich reservierter. «Wer sagt mir, ob wirklich etwas verändert wird, wenn man sieht, dass der Bund den Willen zum Handeln nicht hat und die Kantone gegen die Revision aufbegehren», sagt Philippe Roche. «Es ist wichtig, dass das Volk sich aussprechen kann, denn danach kommen die Behörden nicht umhin, den Volkswillen zu respektieren.»

Der grüne Ständerat Luc Recordon dagegen sieht viele Vorteile im Gegenvorschlag. Doch steht für ihn ausser Frage, die Initiative vor Ablauf der Referendumsfrist gegen den Gegenvorschlag zurückzuziehen.

2004: 12’957

2005: 12’407

2006: 12’031

2007: 11’982

2008: 11’320

2009: 9149

2010: 9887

(Quelle: Bundesamt für Statistik)

Die Kantone werden einen grösseren Entscheidungs-Spielraum zur Land-Erschliessung haben, auch ausserhalb der Bauzonen. Nach dem Nationalrat (grosse Parlamentskammer) hat auch der Ständerat (kleine Parlamentskammer) einer entsprechenden Revision des Bundesgesetzes über den Wald zugestimmt.

Die Kantone können künftig Land erschliessen, wenn sie eine Zunahme der Waldfläche zu Ungunsten der Landwirtschaftszone verhindern wollen.

In der Schweiz bedeckt der Wald eine Fläche von 1,27 Millionen Hektaren oder 31% der Oberfläche der Schweiz und dehnt sich jährlich durchschnittlich um 650 Hektaren aus.

Die Revision des Waldgesetzes, die aufgrund einer parlamentarischen Initiative erfolgte, lockert die Kompensations-Zahlungen für Waldrodungen. Die Wiederaufforstung kann künftig durch Massnahmen zugunsten des Natur- oder Landschaftsschutzes ersetzt werden.

(Quelle: SDA)

(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

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