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Neue Rahmenbedingungen im unendlichen Konflikt

Israelische Soldaten beobachten den Abschuss eines Geschosses, das eine palästinensische Rakete abfangen soll. Reuters

Wenn Israel seine Drohung im Gaza wahr macht, könnte der Krieg im Nahen Osten ausser Kontrolle geraten, weil sich die Rahmenbedingungen seit der letzten Bodenoffensive geändert haben. Davor warnen mehrere Analysten in der Schweizer Presse.

«Der arabische Frühling ist in Palästina angekommen», schreibt der Kommentator im Tages-Anzeiger. «Nicht mit einem Volksaufstand gegen die korrupte PLO-Vetternwirtschaft unter dem machtlosen Präsidenten Mahmoud Abbas, dem besten Freund der Israelis und des Westens. Auch nicht mit Schmährufen gegen die Hamas, die den Menschen im Gazastreifen nichts gebracht hat ausser Krieg, Tod und Zerstörung.» Nein, der arabische Frühling sei in einer schwarzen Limousine im Gazastreifen vorgefahren, nämlich in der Person des ägyptischen Premiers.

Seither würden sich die Repräsentanten arabischer Länder im Gaza-Streifen die Türklinke in die Hand geben. Israels Luftschläge hätten die Hamas militärisch zwar geschwächt, analysiert der Tages-Anzeiger, aber politisch gestärkt. Der arabische Aufstand habe die Ausgangslage dramatisch verändert: «Nach der Arabellion muss die Palästinenserfrage neu gestellt werden.»

Zu einem ähnlichen Schluss gelangt auch der Nahost-Experte Michael Lüders, dessen Meinung in verschiedenen Schweizer Medien wiedergegeben wurde. «Die Rahmenbedingungen haben sich für Israel geändert», sagt Lüders in einem Interview mit der Aargauer Zeitung AZ. «Es gibt keinen Hosni Mubarak mehr, der als Ansprechpartner für israelische Interessen zur Verfügung steht. Sollte es zur Eskalation kommen, gerät die ägyptische Diplomatie in ein schwieriges Fahrwasser.»

Die von Muslimbrüdern getragene Regierung müsste nämlich einerseits den Interessen der Palästinenser Rechnung tragen und ihnen solidarisch zur Seite stehen. Andererseits könnte Kairo den Friedensvertrag mit Israel nicht brechen. «Die Gefahr ist gross, dass dieser Krieg, wenn er denn im vollen Umfang stattfindet, ausser Kontrolle gerät und Ereignisse eintreten, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können», warnt Lüders.

«Israel hat Ansprechpartner verloren»

Im Vergleich zur Operation «Gegossenes Blei» von 2008 seien die diplomatischen Gegebenheiten und der regionale Rahmen komplexer geworden, schreibt auch die Westschweizer Tageszeitung La Liberté:

«Gewiss, die Hamas hat die Unterstützung von Syrien verloren, aber sie hat jene der neuen Regierungen gewonnen, die aus der arabischen Revolution entstanden (….), umso mehr als sich der hebräische Staat den Revolutionen feindlich gegenüber gestellt hat, aus denen diese entstanden sind. Israel hat seine beiden wichtigsten Ansprechpartner in der Region verloren: Ägypten und die Türkei.»

Mit einem Appell zur Wahrung der Menschenrechte hat sich Jakob Kellenberger, der ehemalige Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, zu Wort gemeldet.

Die Verantwortlichen für die Raketenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Israel wüssten um ihre militärische Unterlegenheit, und sie könnten sich die Opferbilanz auch unter der Zivilbevölkerung vorstellen, zeigten aber «keine Spur von Verantwortungsgefühl gegenüber der eigenen Bevölkerung», schreibt Kellenberger in seinem Kommentar über den «unendlichen Konflikt» in der SonntagsZeitung.

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«Völkerrecht gilt auch bei Selbstverteidigung»

Das militärisch hoch überlegene Israel reagiere energisch auf diese Raketen. Es stehe nicht im Ruf, sich das Recht auf Selbstverteidigung durch zu viel Rücksichtnahmen auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit einschränken zu lassen. «Die Reaktion könnte wie schon im Falle der Operation 2008 Züge eines Rachefeldzugs annehmen, der ausreichend Schrecken verbreitet, um für einige Zeit Ruhe zu schaffen.»  

Er könne verstehen, dass die Sorge um die Sicherheit in einem Land wie Israel besonders gross sei. «Ich kann vor dem Hintergrund der Geschichte sogar die Mühe im Umgang mit der Verhältnismässigkeit einer Reaktion verstehen. Die Regeln des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechte gelten aber auch im Falle der sogenannten Selbstverteidigung», mahnt Kellenberger.

Nun würden sich die Appelle zur Masshaltung in diesem Konflikt wieder jagen. Zu reden bemüssigt fühlten sich vor allem die, von denen seit Jahren vergeblich ein Beitrag zu einer gerechten Friedenslösung erwartet werde. «Sie, vor allem die Mitglieder des Nahost-Quartetts müssten reden – und wagen nichts zu sagen», bedauert der ehemalige Spitzendiplomat.

Hasni Abidi, der Genfer Experte für die Entwicklungen in der arabischen Welt, glaubt nicht, dass Israel bluffe, wenn es seine Panzer nach Gaza schicke. 

«Geostrategisch ist das Ägypten von Mursi, ein Muslimbruder, nicht das gleiche wie jenes von Mubarak», sagt Abidi im Interview mit Matin Dimanche. «Israel schickt damit den neuen Akteuren, die aus dem arabischen Frühling hervor gegangen sind, ein Warnsignal.»

Die Missiles aus dem Gaza-Streifen könnten heute bis nach Tel Aviv geschossen werden, wo sie die wirtschaftliche Kapitale treffen könnten. Das wolle Israel verhindern. «Politisch befindet man sich im Wahlkampf, und eine militärische Operation bringt Stimmen», sagt Abidi.

«Waffenstillstand ist möglich»

Etwas Hoffnung aufkommen lässt der Korrespondent der Basler Zeitung BAZ. «Ein Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas ist möglich, aber nicht sicher». Als Bedingung für seine Zustimmung zum Waffenstillstand werde der israelische Premier Netanyahu ein Versprechen der Hamas verlangen, künftig keine Raketen mehr nach Israel zu schiessen. Und «von Ägypten fordert Jerusalem die Zusicherung, die Tunnels zwischen der Sinaihalbinsel und dem Gazastreifen zu zerstören, um den Waffenschmuggel zu unterbinden».

Als Bedingung für die Einwilligung in eine Waffenruhe, so die BAZ, fordere die Hamas eine Zusage der israelischen Regierung, fortan auf gezielte Tötungen und Fliegerangriffe zu verzichten. «Zudem soll Israel die Grenzen zum Gaza-Streifen für Güter des täglichen Bedarfs öffnen.»   

Parallel zum Raketenbeschuss und zu den Luftangriffen liefern sich die Islamisten und Israelis im Internet einen Krieg. Im sozialen Netzwerk Twitter melden sich Militär- und Regierungssprecher aus Tel Aviv und Jerusalem einerseits und Aktivisten der Hamas andererseits regelmässig zu Wort.

Letztere drohten dem Feind, dass sich nach der Hinrichtung von Ahmad al-Dschabari, dem Militärchef der Hamas im Gaza-Streifen, nun «die Tore der Hölle» öffnen würden.

Israels Armee stellte ihrerseits die Filmaufnahmen von der Exekution auf diese Internetseite. Auch die grösseren Luftangriffe dokumentiert die Armee.

Während ein paar Sekunden kann man sich die Schläge, von denen meist nur viel aufgewirbelter Staub zu sehen ist,  im Internet ansehen.

Die Botschaften werden in Form von Drohungen an den Gegner und Durchhalte-Parolen an die eigenen Verbündeten gerichtet. Einige suchen in der ganzen Welt Unterstützung für die eigene Sache.

Aus dem Gaza-Streifen gelangen Fotos oder Berichte über getötete Zivilisten nach den Bombenangriffen aufs globale Netz, aber auch Kritik gegen die eigene Führung.

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