Schweiz bleibt wachsam, auch wenn nur wenige Junge in den «Dschihad» reisen
Eine neue Studie enthüllt ein Stück weit, wieso rund 70 junge Leute die Schweiz verlassen haben, um sich der Organisation "Islamischer Staat" (IS) anzuschliessen. Die Autoren empfehlen, das Beratungsangebot für Angehörige auszubauen.
Im internationalen Vergleich hat die Schweiz bislang nur wenige junge Muslime registriert, die sich aufgemacht haben, um für den IS zu kämpfen. Dennoch hat die Eidgenossenschaft eine Reihe von Massnahmen eingeleitet.
Eine neue Studie bringt nun den familiären und sozialen Hintergrund dieser jungen Leute ans Licht. Bei den meisten bis jetzt durchgeführten Studien über Junge, die sich für den «Dschihad» (Kampf) engagieren, geht es um Sicherheitsaspekte dieses Phänomens.
Die Abteilung Sozialarbeit an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) wollte mehr über jene jungen Leute erfahren, die dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB)Externer Link bekannt sind.
Die Mitte September publizierte StudieExterner Link wurde von einem 11-köpfigen Forscher-Team aus Zürich, Genf, Lausanne und Basel durchgeführt. Aus Datenschutzgründen wurden den Forschenden nicht die vollständigen Profile jener Personen ausgehändigt, die «aus dschihadistischen Motiven in Kriegsregionen reisten».
Alter, Herkunft, Religion und andere allgemeine Merkmale der 66 Fälle, die von 2001 bis 2015 registriert wurden, konnten hingegen analysiert werden. Seither wurden vom NDB drei weitere Fälle erfasst, die jedoch nicht in die Studie integriert wurden.
Heraus kam als erstes, dass – entgegen einem weit verbreiteten Bild – die Zahl minderjähriger und sehr junger Leute klein ist. «Nur sechs von ihnen waren zwischen 15 und 19 Jahre alt, darunter zwei Minderjährige», erklärt Studienleiterin Miryam Eser. «Der Grossteil war zwischen 20 und 35, einige sogar gegen 50.» 20 Personen stammen aus der französischsprachigen Westschweiz. Auch drei junge Frauen wurden gezählt.
Im Fall der Minderjährigen zeigte sich der NDB bereit, einen Brief an die Jungen und ihre Eltern zu schreiben. Bis jetzt hat allerdings noch niemand reagiert.
«Im Gegensatz zu Frankreich oder Deutschland gibt es in der Schweiz keine Selbsthilfegruppen für Angehörige», fügt die Wissenschaftlerin hinzu. «Wir wissen, dass sie sich alleine gelassen fühlen. Es liegt auch in deren Interesse, dass Beratungszentren eingerichtet würden.»
Die Forscher konnten kein Typenprofil eines «Dschihad-Anwärters» erstellen. Das war aber auch nicht ihre Absicht, denn sie wollten eine Bevölkerungsgruppe, die ständig dem Argwohn der Gesellschaft ausgesetzt sei, nicht noch mehr «stigmatisieren».
«Die jungen Muslime von heute sind mit den Anschlägen vom 11. September 2001, der Abstimmung gegen den Bau von Minaretten 2009 und der Diskussion um die Burka aufgewachsen», erläutert Miryam Eser. «Es liegt mir fern, irgendwelches Verhalten zu entschuldigen, aber sie müssen sich ständig rechtfertigen. Man verlangt von ihnen auch, sich umgehend von Attentaten, die irgendwo stattfinden, zu distanzieren.»
Zudem hätten sie es schwieriger, auf dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, und die Einbürgerungsbedingungen seien gegenüber früher strenger geworden. Einige litten zudem an den Qualen der Adoleszenz, «in der man die Tendenz hat, die Welt schwarz-weiss zu sehen», erklärt die Forscherin.
Stete Zunahme
Der Nachrichtendienst des Bundes publiziertExterner Link jeden Monat die Zahl der «dschihadistisch motivierten Reisenden», welche die Schweiz verlassen haben und in Konfliktgebieten waren oder noch sind.
Der NDB geht von 71 Fällen aus, wovon 40 bestätigt sind. Die Rückkehr in die Schweiz von 7 Personen ist bestätigt, jene von 6 weiteren nicht. Der Tod von 7 Personen ist bestätigt, 6 weitere Fälle müssen noch verifiziert werden.
Im Mai 2013 hat der NDB signalisiert, dass seit 2001 20 dschihadistisch motivierte Reisende gezählt wurden. Ein Jahr später, im Mai 2014, stieg die Zahl auf 40. Die Zunahme ist auch auf eine bessere Zusammenarbeit mit den kantonalen Polizeibehörden zurückzuführen.
Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) ist ebenfalls besorgt über das Phänomen terroristischer Aktivitäten von Personen, die sich als ausländische Kämpfer an bewaffneten Konflikten beteiligen.
Im Mai 2015 erreichte dieses Phänomen laut dem UNODCExterner Link einen noch nie da gewesenen Rekord: In wenigen Monaten (von September 2014 bis Mai 2015) stieg ihre Zahl weltweit von 15’000 auf 25’000. Proportional zur Bevölkerungszahl gehören Tunesien, Marokko, Jordanien, Libanon, Kosovo, Bosnien und Albanien zu jenen Ländern, aus denen die meisten «Dschihad-Reisenden» stammen.
Nach Angaben des Zentrums zur Erforschung von Radikalisierung und politischer Gewalt (ICSR), einer in London ansässigen NGO, zählt die Schweiz zu den westlichen Ländern mit den wenigsten toten «Dschihad-Reisenden» pro Million Einwohner. Italien und Spanien haben noch weniger, während Belgien an der Spitze steht.
Die Rolle des Vaters
Eine Gemeinsamkeit könnte laut Miryam Eser Gegenstand zusätzlicher Studien sein: Mehrere dieser angehenden Dschihadisten sind ohne oder mit einem sehr autoritären Vater aufgewachsen. Und viele von ihnen zeigen eine Fragilität und leiden an psychischen Störungen.
Die Mehrheit der Dschihad-Anwärter sind als Muslime geboren (52 von 66) und stammen mehrheitlich aus Ex-Jugoslawien oder Somalia. 12 Personen, davon die Hälfte Schweizer Staatsangehörige, sind zum Islam konvertiert.
In 20 Fällen war Propaganda im Internet der Auslöser für den Dschihad, während 13 Personen angaben, von einer Kriegserfahrung geprägt zu sein, insbesondere auf dem Balkan. Salafisten-Gruppen – «mit ihren Versprechen von Gleichheit und Aufwertung», wie die Autoren sagen, – sind für 13 weitere Personen der Grund für ihr Engagement.
Gemäss Miryam Eser ist der radikale Islam für diese Personen ein «Gegenmodell», das den Männern erlaubt, die Rolle eines Kämpfers zu übernehmen. Die jungen Frauen ihrerseits seien aus humanitären Gründen und wegen «ihrer Frustration angesichts der internationalen Untätigkeit oder dem Leiden der syrischen Bevölkerung» dabei, heisst es in der Studie. Eine Rolle spiele auch die Kameradschaft mit anderen «Schwestern» oder gar eine Romantisierung des «abenteuerlichen» Lebens innerhalb des Islamischen Staates.
Sektiererische Züge
Die terroristische Organisation zeigt im Übrigen gewisse Züge, die für Sekten typisch sind, wie etwa die Unterteilung in Gut und Böse, die absolute Dimension, die Heilsversprechung, aber auch die Unterdrückung jeglicher interner Kritik.
Ein junger Romand, der nach drei Monaten beim IS in die Schweiz zurückgekehrt war, hatte zu seiner Verteidigung vorgebracht, er sei Opfer einer Sekte geworden. Der junge Mann wurde von der Bundesanwaltschaft mittels Strafbefehl zu 600 Stunden gemeinnütziger Arbeit bedingt verurteilt und muss sich zudem einer psychiatrischen Behandlung unterziehen.
Das Forscherteam hat auch die Propaganda im Internet analysiert und gefälschte Facebook-Konten eröffnet, um Reaktionen zu testen. Die weiblichen Profile stiessen umgehend auf ein ausgesprochen grosses Interesse. «Man stellt auch eine gesteigerte Suche nach qualifizierten Personen fest, wie etwa Ärzte», sagt die Wissenschaftlerin. «Ihnen will man beweisen, dass sie eine gut funktionierende Gesellschaft vorfinden, die sich um die Allgemeinheit sorgt.»
Burim Luzha, Student der Ingenieurwissenschaften, der an diesem Teil der Studie teilgenommen hat, bestätigt: «Man findet Videos auf Englisch, welche die Spezialisten dazu aufrufen, der Organisation beizutreten.» Diese Propaganda werde auch in Zeitschriften, auf Glanzpapier verbreitet, präzisiert Eser.
Winzige Minderheit
Luzha betont allerdings, dass «die 69 Personen, die bislang rekrutiert wurden, lediglich 0,0138% der in der Schweiz lebenden Muslime ausmachen.» Die mediale Präsenz dieses Themas habe also wenig mit der Realität zu tun. Seiner Meinung nach «sind es die Imame und Organisationen junger Muslime, welche die Leute am besten davon überzeugen können, nicht hinter falschen Ideologien herzurennen».
Trotzdem: Im Vergleich zu Frankreich oder Deutschland haben Eltern und Angehörige dieser Dschihadisten nur wenige Stellen, an die sich wenden können. «Der Schweiz mangelt es an Instrumenten in Sachen Ausbildung von Lehrkräften und anderen Professionellen, die gefährdete junge Leute entdecken könnten, wie etwa Beratungs- oder Betreuungszentren.
Die Forscherin bedauert, dass eines der zwei Beratungszentren über Extremismus, ein Büro der beiden Basler Kantone, nächstens aus Spargründen schliessen muss. Sie empfiehlt, die bestehenden Angebote ins Netz zu stellen, interkantonale «Deradikalisierungs»-Programme zu schaffen und «Telefon-Beratungslinien» einzurichten.
«Wir sprechen von ‹Helpline›, nicht von ‹Hotline'», betont Miryam Eser, «denn letzteres erzeugt falschen Alarm». Bundesrat und Parlament hatten es im Juni abgelehnt, eine «Hotline» einzurichten, mit der Begründung, es sei besser, die bestehenden Dienste auszubauen.
Die Ergebnisse der ZHAW-Studie, die vom Bund finanziert wurde, werden auch in die Taskforce «TETRA» (zur Bekämpfung von dschihadistisch motiviertem Terrorismus) einfliessen und dort debattiert. Die 2014 ins Leben gerufene Arbeitsgruppe hat bereits eine Reihe von Empfehlungen formuliert. Eine Bestandes-Aufnahme der Umsetzung dieser Massnahmen soll «im Herbst» erfolgen, wie ein Sprecher der Bundespolizei (Fedpol) erklärte.
Offizielle Strategie
Fast gleichzeitig mit der Veröffentlichung der Studie über die Schweizer Dschihadisten nahm der Bundesrat am 18. September die Strategie der Schweiz zur TerrorismusbekämpfungExterner Link an.
Ein wichtiger Teil der in der Strategie genannten Massnahmen sei bereits umgesetzt, der Grossteil der übrigen Massnahmen in der Realisierungsphase, schreibt der Bundesrat. Die Regierung setzt auf «Prävention, Repression, Schutz und Vorbereitung auf eine Krisensituation». Auch erinnert sie daran, dass die Bekämpfung des Terrorismus und deren Finanzierung mit «allen Mitteln und Möglichkeiten, über die ein Rechtsstaat verfügt, unter Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten» erfolge.
Der Bundesrat versichert, dass «die Schweiz das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit aufrechterhält und im Zweifelsfall der Freiheit mehr Gewicht» einräumt.
Um die Radikalisierung von Schweizern, die das «Dschihad-Abenteuer» wagten, zu unterbinden, sieht die Strategie unter anderem Massnahmen zur Integration und Prävention der Stigmatisierung vor, Sensibilisierungs-Kampagnen, etwa in den Kultstätten, die Schaffung von Normen bei der Ausbildung muslimischer Religionsvorsteher oder die Zusammenarbeit mit Netzwerkbetreibern und sozialen Medien, um die Verbreitung strafbarer Inhalte zu bekämpfen.
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
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