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Russlands Krieg weckt neue Debatte um Neutralität

Neutrale Überwachungskommission zwischen Nord- und Südkorea, 1953
Die Neutrale Überwachungskommission NNSC beobachten seit dem Ende des Koreakrieges 1953 im Niemandsland um den 38. Breitengrad das Waffenstilstandsabkommen zwischen Nordkorea und Südkorea. Keystone

Eine Kriegsforderung Putins ist die Neutralität der Ukraine, und die Schweiz hat ihre Neutralität gerade neu interpretiert. Auch Länder wie Schweden oder Taiwan justieren sich. Vom schwierigen Grundsatz, sich nicht einzumischen – eine Erörterung.

Obwohl ausgerechnet Wladimir Putin die «Neutralität» des überfallenen Nachbarlandes Ukraine zum Kriegsziel erklärt hat, bleibt diese «auch im 21. Jahrhundert eine Inspiration und Ideal für viele Staaten.» Dies zumindest sagt Johanna Rainio-Niemi: die Politikwissenschafterin forscht und lehrt an der Universität Helsinki zum Thema Neutralität*.

Johanna Rainio-Niemi.
Johanna Rainio-Niemi Copyright: Mikko Virta

Im Nachzug zum russischen Angriff auf die Ukraine haben in der internationalen Wahrnehmung gleich mehrere Länder ihre Neutralität «aufgegeben». Dazu gehören traditionell neutrale Staaten die Schweiz und Schweden: «Schweden gibt Neutralität auf»Externer Link, bilanzierte der öffentlich-rechtliche Fernsehsender ZDF nach dem historischen Beschluss des schwedischen Parlamentes Ende Februar, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen.

Und in der «New York Times» wurde der Entscheid der Schweizer Regierung, sich den EU-Sanktionen gegen Russland anzuschliessen, mit der Überschrift quittiert: «Schweiz legt lange Tradition der Neutralität beiseite»Externer Link.

Diese Wahrnehmung spiegelt sich auch in den innenpolitischen Debatten zum Thema – interessanterweise unter entgegengesetzten Vorzeichen: So fordert in Schweden die nationalkonservative Partei der Schwedendemokraten eine radikale Abkehr von der bisherigen Politik – und einen Anschluss an die Militärallianz Nato. In der Schweiz hingegen bezeichnet die rechtskonservative SVP bereits die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland als «Ende der Neutralität».

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Dabei könnten die zahlreichen Abgesänge auch zu früh kommen: «Die Neutralität definiert sich nicht über die Sanktionsfrage. Das ist weder im Völkerrecht so festgelegt, noch politisch eine Voraussetzung für einen neutralen Staat», sagt Pascal Lottaz, Forschungsbeautragter für «Neutralitätspolitik» an der Tokyoter Waseda-Universität in Japan**.

Laut Lottaz, der in Fribourg in der Schweiz aufgewachsen ist, erlauben es die Haager Konventionen zudem «neutralen Staaten explizit, Waffen ein- und auszuführen». Und das unabhängig davon, ob sich ein Land im Krieg befindet, oder nicht.

Pascal Lottaz
Pascal Lottaz. zVg

Die Haager Konventionen, welche von den damaligen Grossmächten zu Beginn des 20. Jahrhunderst vereinbart wurden, bilden bis heute einen wichtigen Teil des humanitären Völkerrechtes.

Neutralität als Zeitgenössin der Demokratie

Historisch betrachtet ist die Neutralität eine Zeitgenössin der Demokratie. Beide wurde in den antiken griechischen Stadtstaaten erfunden und fanden später unterschiedlichste Anwendungen, bis sie schliesslich im 19. Jahrhundert zu global verstandenen  Modellen wurden.

Rechtlich gelten Staaten bis heute als «neutral», die ausdrücklich keiner Militärallianz angehören (wollen). Das sind über den Erdball betrachtet einige Dutzend, vor allem in Europa und Asien. Aber auch in Lateinamerika gibt es mit Costa Rica ein Land, das 1983 seine «permanente, aktive und unbewaffnete Neutralität» verkündete.

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Für Johanna Rainio-Niemi ist die Neutralität für viele Länder eine «Erfolgsgeschichte»: dazu rechnet die finnische Politikwissenschafterin auch EU-Mitglieder wie Irland, Österreich und ihr eigenes Land, Finnland. Zur Geschichte gehören aber auch Staaten, die trotz Neutralität nicht unberührt blieben: etwa Belgien im Ersten Weltkrieg – überfallen durch Deutschland – oder Kambodscha im Vietnamkrieg, das sowohl von Nordvietnam und den USA angegriffen wurde.

«Neutralität ist immer dann erfolgreich, wenn sie entweder den Interessen aller Beteiligten dient, oder zumindest keinem der Beteiligten als existenziell  bedrohlich erscheint», hält der Schweizer Neutralitätsforscher in Japan, Pascal Lottaz, fest.

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Immer wieder haben gewaltätige Konflikte zwischen Staaten in der Vergangenheit zu neuen Formen der Neutralität geführt. Dazu gehören auch innovative Lösungen für umstrittene Territorien wie das Ostseearchipel Åland zwischen Schweden und Finnland (1920) oder den Spitzbergen-Vertrag 1925, der die Inselgruppe in der Hocharktis bis heute befriedet.

1959 konnte zudem mit dem Antarktisabkommen gleich ein ganzer Kontinent «neutralisiert» werden. Aktuell wird die Neutralität auch in Südostasien intensiv diskutiert: Sowohl der Staatenbund ASEAN wie auch die Pazifikinsel Taiwan überlegen sich auf diesem Weg den zunehmenden (auch militärischen) Spannungen zwischen China und den USA zu entziehen.

Für Neutralitätsforscher wie Pascal Lottaz steht deshalb fest: «Solange es internationale Konflikte gibt, hat auch die Neutralität eine Zukunft. Die grosse Frage ist, wie wir sie gewinnbringend für den Frieden einsetzen können.»

*Johanna Rainio-Niemi, Neutrality as Compromises: Finland’s Cold War Neutrality (2021); Rowman and Littlefield.

**Pascal Lottaz, Neutral Beyond the Cold: Neutral States and the Post-Cold War International System (2022);  Lexington Books.

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