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Nicht alle Gemeinden haben «Fusionitis»

Founex ist eine wohlhabende Gemeinde im Westen des Kantons Waadt. Jean-Michel Zellweger

Von den Kantonen angeregt, fusionieren immer mehr kleine und grosse Gemeinden in der Schweiz. Eine Reportage aus Founex, wo die Liebe der Bürger zu ihrer Gemeinde das Fusionsprojekt "Terre Sainte" zu Fall brachte.

«Solange der Lebensmittelladen mitten im Dorf bleibt, neben der Post, kann man fusionieren, das ist mir egal», bemerkt eine Einwohnerin von Founex. Diese Meinung wird aber nicht von allen geteilt.

Im Gegenteil, im Waadtländer Ort mit 3000 Einwohnerinnen und Einwohnern schienen die Bürgerinnen und Bürger der Fusion mit sieben umliegenden Gemeinden eher skeptisch gegenüber zu stehen. Am Tag nach der Beerdigung der Fusion durch ihren Gemeinderat sind sie erleichtert.

Niemand brauche seine Nase in die Angelegenheiten von Founex zu stecken. Dies ist die Botschaft, die die Legislative Ende August mit der Ablehnung des Projekts «Terre Sainte» mit 25 Stimmen gegen 15 gutgeheissen hat. Das Ziel wäre gewesen, acht Gemeinden dieser Region zu fusionieren.

Founex liegt im Herzen des Projekts, es ist die grösste Gemeinde mit den meisten Einwohnern. Ein schickes Dorf mit luxuriösen Villen, in die sich die Leute hinter schützenden Hecken an ruhigen Strassen zurückziehen, sauber und friedlich. Sie entsprechen dem Bild der makellosen Schweiz. Ein Einwohnerin sagt: «Wir sind reich, wir haben es nicht nötig, zu fusionieren.» Was ist mit der Solidarität? Die Antwort ist ein Lächeln oder ein Grinsen.

Am Tag nach der Niederlage erklärt Georges Binz, Gemeindepräsident von Founex, den Ausgang der Abstimmung mit zwei Gründen: «Der erste Grund ist die Angst vor der Veränderung und die Angst vor dem Verlust der Autonomie. Die Bürgerinnen und Bürger kennen ihren Gemeindepräsidenten, ihre Gemeinde, ihre Gemeinderäte. Mit der Fusion befürchteten sie, dass ihre politischen Angelegenheiten in andere Hände übergehen. Der zweite Grund ist die Tatsache, dass es hier einen richtigen Stolz gibt, zur Gemeinde zu gehören. Die Einwohner haben das Gefühl, sie hätten das Dorf errichtet und sie wollen das behalten, was sie gebaut haben. Die Idee, es zu teilen, haben die Leute nicht wirklich», analysiert er.

Der Trend zu Fusionen

Die Idee zum Teilen ist die wichtigste Grundlage zum Fusionieren. Für kleine Gemeinden oder grosse Agglomerationen ist eine Fusion eine Art Heirat, ein Einbringen der Ressourcen für die besten und die schlimmsten Zeiten. Ohne dass genau gezählt wird, ist es nachher schwierig zum Aufteilen. Aber obwohl es viele «Ehestreitigkeiten» zu verwalten gibt, fusionieren in der Schweiz immer mehr Gemeinden.

«Heute befindet sich fast eine von fünf Gemeinden in einem Fusionsprojekt. Seit 1848 sind 50% der Gemeinden verschwunden», sagt Reto Steiner, Professor am Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern und Verantwortlicher der Nationalfonds-Studie «Herausforderungen für Gemeindebehörden».


Der Prozess der Fusionen wurde in den 1990er-Jahren initiiert, mit sehr initiativen Projekten in den Kantonen Freiburg und Thurgau. Er ist in der Deutschschweiz viel weiter fortgeschritten als in der Westschweiz.

Der Kanton Waadt im Speziellen ist im Hintertreffen, gemessen an der Anzahl Gemeinden, die neuorganisiert worden sind. Trotz dieser Ungleichheit sind Gemeindefusionen in Zukunft ein Element der kantonalen Politik in der ganzen Schweiz.

Gemäss Steiner gibt es zwei Typen von Fusionen: «Der erste Fall ist jener von kleinen Gemeinden in Randregionen, die vor allem fusionieren, um sich gegenseitig zu stärken und um der Schwierigkeit zu begegnen, kompetentes politisches Personal zu finden. Der zweite Fall ist häufiger: Es ist die Fusion zwischen zwei grossen Gemeinden. Städte, die sich an ihren Rändern verbinden, um die Knappheit an Bauzonen zu bekämpfen, oder um sich die Verbindungen im öffentlichen Verkehr besser abzusichern. Und auch, um auf nationaler Ebene mehr Gewicht zu erhalten.»

Mit den Vorteilen kommen die Nachteile

Die Vorteile einer Fusion zwischen zwei Gemeinden sind leicht einsehbar, es geht darum, ihre politische Macht und auf regionaler und kantonaler Ebene zu erhöhen und effizientere Dienstleistungen zu erbringen, doch eine Vereinigung kann sehr schwierig werden.

«Welche Grösse die Gemeinde auch immer hat, die Fusionen stellen jedes Mal die Frage nach der politischen Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger und für die grossen Gemeinden nach der Aufteilung der Sitze in Exekutiven und Legislativen», unterstreicht Katia Horber-Papazian, Professorin für Lokalpolitik am Hochschulinstitut für öffentliche Verwaltung in Lausanne. Eine Fusion zwischen einer eher rechten Gemeinde und einer eher linken Gemeinde könne tatsächlich explosiv werden.

Die Frage der politischen Repräsentation wird, wie sich gezeigt hat, nicht nur ein strategisches Problem der Politiker, sondern sie betrifft auch die Bürgerinnen und Bürger.

Denn, wie Reto Steiner anmerkt: «Anlässlich einer Fusion berücksichtigt man verschiedene technische Faktoren wie Finanzen, Dienstleistungen am Bürger oder Infrastrukturen. Man darf aber den emotionalen Faktor nicht vergessen. Dieser wird direkt von der politischen Kultur beeinflusst. Denn dies ist spürbar zwischen den Gemeinden: Die verschiedenen Bürgerinnen und Bürger stimmen mit der politischen Kultur überein und fühlen sich gegenseitig verstanden.»

Identitätsstiftende Gemeinde

Dieser emotionale Aspekt spielt eine zentrale Rolle. Das zeigt die Weigerung des Gemeinderats von Founex, sich zu fusionieren. «2002 haben wir eine Charta zwischen den Gemeinden der ‹Terre Sainte› unterzeichnet. Seither haben wir gemeinsam gehandelt und uns regelmässig getroffen. Schulen, Sportstätten und Feuerwehr werden alle bereits gemeinsam verwaltet. Und bei all diesen Veränderungen gab es keinerlei Probleme», erklärt Binz.

«Um das Erreichte nun zu konkretisieren, bräuchte es eine übergeordnete Stelle, daher die Idee mit der Fusion. Das Nein des Gemeinderats, der damit auch einen Entscheid des Stimmvolks verunmöglichte, ist eindeutig emotional und im Zusammenhang mit der Identifikation über die Gemeinde zu sehen.»

Und auch wenn die Bürgerinnen und Bürger immer mehr ausserhalb ihrer Gemeinde tätig sind, bliebt ihre die Bindung an die Gemeinde hoch. Reto Steiner belegt dies mit Univox-Studien (Studien, welche die gesellschaftliche Entwicklung in der Schweiz untersuchen), die regelmässig zeigen, dass sich Schweizerinnen und Schweizer zuallererst über ihre Gemeinde identifizieren, dann über die Schweiz und erst zuletzt über den Kanton.

Doch vielleicht lockere sich mit der Veränderung der Gemeindelandschaft mit der Zeit auch die Bindung, gibt Steiner zu bedenken. «Wenn die Bürgerinnen und Bürger in einer Fusion einen wirklichen Vorteil sehen, steht die Bindung an die Gemeinde erst an zweiter Stelle.»

Die Schweiz ist trotzdem noch weit weg von der Entwicklung in anderen Ländern. So liegt sie mit einer durchschnittlichen Grösse von rund 1000 Personen pro Gemeinde im Vergleich weit hinter Grossbritannien, wo heute in jeder Gemeinde rund 100’000 Menschen leben.

Auch mit der Zunahme von Fusionen werden kleine Dörfer mit Lebensmittelgeschäft, Postamt und Café sowie einem Gemeindesaal der Schweiz noch lange erhalten bleiben.

Laureline Duvillard, Founex, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Französischen: Eveline Kobler und Christian Raaflaub)

Regierung: Die Gemeindefusion wurde von der neuen Regionalpolitik des Bundesrats angeregt, die seit dem 1. Januar 2008 in Kraft ist.

Zwänge: Während einige Kantone finanzielle Anreize zur Förderung von Fusionen anbieten, gehen andere weiter und zwingen Gemeinden sogar dazu. Nach Thurgau war der Kanton Tessin in den 2000er-Jahren der zweite, der Gemeinden zur Fusion zwang.

Verminderung: 1990 gab es in der Schweiz 3021 Gemeinden. Am 1. Januar 2010 zählte sie noch 2596, 40 weniger als 2009 und 263 weniger als 2000. Zwischen 2008 und 2009 sind 79 Gemeinden verschwunden. In zehn Jahren wird die Schweiz weniger als 2000 Gemeinden zählen.

Radikales Beispiel Glarus: Am 7. Mai 2006 hat das Glarner Stimmvolk beschlossen, die 25 Ortschaften des Kantons im Jahr 2011 in drei Einheiten zu verschmelzen: Glarus Nord, Glarus Süd und Glarus Mitte.

Umfrage zu Fusionen
Das Monatsmagazin Reader’s Digest Schweiz hat im Juli 2010 vom Umfrage-Institut Isopublic 500 Personen in der Schweiz fragen lassen, ob sie Gemeindefusionen befürworten oder nicht.

58,3% der Befragten waren Gemeindefusionen gegenüber positiv eingestellt (35,1% «eher dafür», 23,2% «klar dafür»). Westschweizerinnen und Westschweizer waren zu 26,7% «klar dafür», in der Deutschschweiz lag dieser Anteil bei 22,1%.

Die meisten Befürworter leben in der Alpenregion oder in kleineren Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Die meisten Gegner von Fusionen leben in Orten mit zwischen 2000 und 10’000 Einwohnern.

So wird ein Gebiet von acht Gemeinden zwischen dem Genfersee und dem Jura am Westrand des Kantons Waadt an der Grenze zum Kanton Genf bezeichnet.

Der Begriff taucht zum ersten Mal im 19. Jahrhundert als Bezeichnung «Commugny-Coppet / Terre Sainte» für eine dortige Kirchgemeinde auf.

Der Name war als Hinweis auf die Kirche Commugny zu verstehen, die im Mittelalter als heiliger Ort galt und für die Christen mehrerer umliegender Gemeinden zuständig war.

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