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«Nie war es dringender, Atomwaffen abzuschaffen»

Melissa Parke
Melissa Parke erklärt, warum die Welt sich von Atomwaffen befreien muss. swissinfo.ch

Vor sechs Jahren erhielt die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) den Friedensnobelpreis. Die wachsenden nuklearen Drohungen aus Russland machen den Weg zu einer atomwaffenfreien Welt schwieriger denn je. Im Exklusivinterview mit SWI swissinfo.ch spricht Melissa Parke, die neue Exekutivdirektorin von ICAN, über die Herausforderungen in einer Zeit zunehmender Spannungen und Konflikte.

Im September ist Melissa Parke von Australien nach Genf gezogen, um die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen ICAN zu leiten.

Eine ihrer ersten Missionen führt sie Ende September an die Generalversammlung der Vereinten Nationen nach New York. Dort versucht sie, Staatsoberhäupter, Aussenminister:innen und andere Staatsvertreter:innen dazu zu bewegen, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten.

Die Vereinbarung wurde 2017 mit dem Ziel ins Leben gerufen, Atomwaffen vollständig zu verbieten. Im selben Jahr erhielt ICAN den Friedensnobelpreis, weil es die katastrophalen humanitären Folgen des Einsatzes von Atomwaffen aufzeigte.

Seitdem haben 97 von 197 möglichen Beitrittsstaaten Schritte unternommen, um dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten; aber nur 69 Länder haben ihn auch ratifiziert.

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Nichts deutet darauf hin, dass jene Staaten, die über Atomwaffen verfügen (die Vereinigten Staaten, Russland, das Vereinigte Königreich, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea), diese zu ihrer eigenen Sicherheit aufgeben werden.

Auch die Länder, die sich auf einen nuklearen Schutzschirm verlassen, also auf die Garantie eines Atomwaffenstaats, einen Verbündeten ohne Atomwaffen zu verteidigen, haben wenig Interesse an der Ratifizierung des Vertrags gezeigt.

Heute sind noch immer mehr als 12’500 Atomwaffen im Umlauf – die USA verfügen über 5244 und Russland über 5886.

In einem ihrer ersten Medieninterviews spricht Parke über die Gefahren, die von der heutigen geopolitischen Lage ausgehen und darüber, warum die Welt ihre Nuklearwaffen loswerden muss.

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SWI swissinfo.ch: Wie schätzen Sie die aktuelle globale Sicherheitslage ein?

Melissa Parke: Ich denke, dass es in einer Zeit zunehmender Spannungen und Konflikte noch nie so wichtig und dringend war, Atomwaffen abzuschaffen. Der Vertrag über das Verbot von Nuklearwaffen eröffnet einen Weg zu deren Beseitigung.

Was wir derzeit beobachten, ist eine Verschärfung der Spannungen, eine Eskalation der Militarisierung sowie eine Modernisierung und Erweiterung der Atomwaffenarsenale. Was wir wirklich brauchen, ist mehr Diplomatie, bessere Verhandlungen und Deeskalation. Der Vertrag ist ein Weg dorthin.

Hat der Krieg in der Ukraine den Weg zu einer atomwaffenfreien Welt schwieriger gemacht?

Ja, das hat er. Die Spannungen haben zugenommen. Wir sehen, dass Atomwaffen als Druckmittel und zur Einschüchterung eingesetzt werden, und nicht um den Frieden zu sichern.

Ich glaube, es ist ein Trugschluss, dass Atomwaffen die Welt sicherer machen. Sie machen die Welt unendlich viel gefährlicher, denn solange es sie gibt, besteht die Möglichkeit, dass sie eingesetzt werden. Wir wissen, dass jeder Einsatz katastrophale humanitäre und ökologische Folgen haben wird.

Wie wirken sich neue Technologien auf Atomwaffen aus und wie beeinflussen sie die Diskussionen und Verhandlungen über den Atomwaffensperrvertrag?

Die Risiken haben stark zugenommen. In den vergangenen Jahrzehnten gab es etliche Zwischenfälle mit Atomwaffen, von denen jeder einzelne zu einem ausgewachsenen Atomkrieg hätte führen können. Es kam zu vielen Unfällen, Fehlkalkulationen und Missverständnissen.

Darüber hinaus stellen unberechenbare Führer:innen, terroristische Gruppen und Cyberangriffe zusätzliche Bedrohungen dar.

Das Aufkommen der künstlichen Intelligenz wirft auch die Frage auf, ob künftig Maschinen Entscheidungen über den Einsatz von Atomwaffen treffen werden.

Das Umfeld ist viel gefährlicher als zu Zeiten des Kalten Kriegs. Aus diesem Grund sind die Diskussionen und Verhandlungen zum Atomwaffensperrvertrag völlig ins Stocken geraten.

Wie gehen Sie angesichts der Komplexität der derzeitigen Situation vor, um Unterstützung für den Atomwaffensperrvertrag zu finden?

Natürlich setzen wir uns dafür ein, dass so viele Länder wie möglich als Beobachtende teilnehmen und den Vertrag so bald wie möglich unterzeichnen. Wir ermutigen alle Länder dazu, die den Vertrag noch nicht unterzeichnet haben – besonders Schirmstaaten wie Japan oder Australien, deren Premierminister oder Regierungen sich für die nukleare Abrüstung einsetzen.

Staaten wie Brasilien und Indonesien befinden sich im Ratifizierungsverfahren und wir stehen in Kontakt mit ihren Regierungen. Viele andere Länder stehen ebenfalls kurz vor der Unterzeichnung oder Ratifizierung.

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Welche Hindernisse gibt es für die Länder, die den Vertrag ratifizieren wollen?

Die brasilianische Regierung muss im Rahmen des Ratifizierungsprozesses den Kongress (die gesetzgebende Körperschaft) einschalten, was einige Zeit in Anspruch nimmt. Der indonesische Prozess hat gerade erst begonnen.

In der Schweiz wird die Ratifizierung von der Mehrheit der Öffentlichkeit unterstützt, doch die Frage ist, wann das geschehen wird. Japan hat als Opfer des einzigen Einsatzes von Atomwaffen in Hiroshima und Nagasaki allen Grund, auf ein vollständiges Verbot von Waffen hinzuarbeiten, um sicherzustellen, dass sich solche Ereignisse nie wiederholen werden.

Sich auf Atomwaffen als Teil der Verteidigungspolitik zu verlassen, macht keinen Sinn. Länder wie Neuseeland, die Philippinen und Thailand unterhalten enge militärische Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und haben den Vertrag bereits unterzeichnet.

Wir hoffen, dass sich Australien und Japan daran ein Beispiel nehmen und erkennen, dass es möglich ist, die Sicherheit ohne Atomwaffen aufrechtzuerhalten.

Was die Nato und die ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats angeht, waren sich im letzten Jahr alle einig, dass ein Atomkrieg niemals gewonnen werden kann und dass der Verbotsvertrag der einzige Weg ist, dies zu gewährleisten.

Was hat Sie dazu inspiriert, Ihr Leben dem Verbot von Atomwaffen zu widmen? Wie haben Ihre Erziehung und Ihre Erfahrungen Ihr Engagement für diese Anliegen geprägt?

Ich habe mein ganzes Leben lang gegen Ungerechtigkeit gekämpft, und meiner Meinung nach gibt es keine grössere Ungerechtigkeit gegen die Menschheit als Atomwaffen.

Ich bin auf einer Farm in Westaustralien aufgewachsen, wo wir Obst anbauten, darunter viele Nashi-Birnen, die nach Japan geschickt wurden, das einzige Land, das jemals mit Atomwaffen angegriffen wurde.

Meine Familie war schon immer sehr an Fragen der sozialen Gerechtigkeit interessiert, einschliesslich der nuklearen Abrüstung und Umweltfragen. In den 1990er-Jahren war ich Teil des Widerstands gegen eine Atommülldeponie in Westaustralien.

Bei meiner Arbeit für die Vereinten Nationen habe ich dann aus erster Hand die Auswirkungen von Kriegen und die Folgen von Waffen wie Landminen und Streumunition gesehen – im Kosovo, im Jemen, in Gaza und anderswo.

Ich werde nie vergessen, wie ich im August 2002 in Gaza an einer Hiroshima-Gedenkfeier teilnahm, bei der Hunderte von palästinensischen Kindern handgemachte Papierboote mit Kerzen schwimmen liessen, obwohl sie selbst regelmässig bombardiert wurden.

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Im australischen Parlament inspirierte mich ein ehemaliger Minister der australischen Labor-Regierung, Tom Uren, der als Kriegsgefangener in Japan in der Nähe von Nagasaki war, als die [zweite] Bombe abgeworfen wurde.

Er widmete sein Leben der nuklearen Abrüstung. Er war auch der politische Mentor des derzeitigen australischen Premierministers, der dieses Engagement teilt.

Wie Japan steht auch Australien aufgrund der engen Bündnisse mit nuklear bewaffneten Staaten, den USA und den grossen Schirmstaaten, vor besonderen Herausforderungen.

Nachdem ich aus dem Parlament ausgeschieden war, setzte ich mein Interesse an diesen wichtigen Themen fort und schloss mich eifrig der zivilgesellschaftlichen Bewegung zur Abschaffung von Massenvernichtungswaffen an.

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Sara Ibrahim

Wie sähe eine Welt ohne Atomwaffen aus?

Für die einen ein benötigtes Mittel zur Sicherung von Frieden und Stabilität, für die anderen eine Bedrohung für die Menschheit. Was ist Ihre Meinung?

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Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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