Nutzen der Personenfreizügigkeit unter der Lupe
Mit der Aufhebung der Migrations-Kontingente für acht weitere EU-Staaten ab dem 1. Mai 2011 steht die Frage um den wirtschaftlichen Nutzen der Personenfreizügigkeit erneut im Rampenlicht.
Aufgrund des Abkommens zum freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) haben Bürgerinnen und Bürger der EU das Recht, sich für unbegrenzte Zeit in der Schweiz aufzuhalten, wenn sie hier einen Arbeitsvertrag haben. Auch ohne Stelle dürfen Staatsangehörige aus der EU sich für drei Monate in der Schweiz aufhalten und Arbeit suchen.
Das Abkommen ist seit 2002 etappenweise in Kraft getreten. Im Juni 2007 wurden die Übergangs-Quoten zur Einreise für Bürgerinnen und Bürger aus den ersten 17 EU-Staaten aufgehoben. In den ersten sieben Monaten nach Ende der Übergangsfrist stieg die Einwanderung aus den 17 Staaten mit 48’000 Personen um 11,6%.
Nach der Aufhebung der Kontingente für acht weitere EU-Staaten rechnen die Behörden mit einer weniger grossen Zunahme, wie Martin Hirsbrunner vom Bundesamt für Migration gegenüber swissinfo.ch sagt.
Die bisher geltenden Einwanderungs-Kontingente für die acht Staaten aus Osteuropa, die der EU 2004 beitraten – Bewilligungen für 30’000 Kurzaufenthalte und 3000 längerfristige Aufenthalte – seien nicht ausgeschöpft worden, sagt Hirsbrunner.
«Wir rechnen deshalb auch nicht mit einer grossen Welle neuer Arbeiter. Es hängt aber alles von den Bedürfnissen der Wirtschaft ab und es ist nicht einfach, vorauszusagen, wie diese sich weiter entwickeln wird.»
Von den Aufenthaltsbewilligungen (B-Ausweis) wurden etwa 60% vergeben, bei den Kurzaufenthaltsbewilligungen (L-Ausweis) waren es etwa 90%, sagt Hirsbrunner.
Sprachbarrieren und ein gesundes Wirtschaftswachstum in Osteuropa hätten dazu beigetragen, dass aus diesen Ländern eher weniger Leute in die Schweiz gekommen seien, sagt Peter Lauener, Sprecher des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB).
«Die wirtschaftlichen Bedingungen in der EU-8 sind gut, sehr gut sogar. Die Arbeitskräfte dieser Länder finden Stellen zu Hause», sagt Lauener. «Und Arbeitnehmer aus diesen Ländern sind bei Schweizer Arbeitgebern weniger gesucht, nicht zuletzt aus Sprachgründen.»
Wirtschaftsboom
Eine Analyse des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) kommt zum Schluss, dass die aufgrund des Personenfreizügigkeits-Abkommens gestiegene Einwanderung für die Wirtschaft positiv gewesen sei. Sie habe auch das Niveau der Arbeitslosigkeit nicht negativ beeinflusst.
Nach einer Periode von Stagnation und Negativwachstum 2002 und 2003 schuf die Schweizer Wirtschaft zwischen 2006 und 2007 etwa 150’000 neue Stellen; das Bruttoinlandprodukt stieg in dem Zeitraum um 3,2% respektive 3,4%.
«Die Einwanderung aus dem europäischen Raum entsprach den Bedürfnissen der Schweizer Wirtschaft und begünstigte somit das Wirtschaftswachstum», kam das Seco in der Analyse der wirtschaftlichen Auswirkungen des Personenfreizügigkeits-Abkommens 2008 zum Schluss.
Auch die Arbeitslosenquote sei dank günstiger Wirtschaftsbedingungen deutlich gesunken.
Arbeitsbedingungen
Auch wenn die wirtschaftliche Bilanz der grösseren Zuwanderung aus der EU grundsätzlich positiv ausfällt, gibt es offene Fragen, was die Auswirkungen des Abkommens auf Arbeitsbedingungen und Löhne angeht.
Die Arbeitgeber müssten in Sachen Löhne und Arbeitsbedingungen aufgrund des Personenfreizügigkeits-Abkommens zwar mit schärferen Kontrollen leben, sagt Lauener. Die Instrumente, um Sanktionen gegen Arbeitgeber umzusetzen, die gegen Vorgaben verstiessen, seien aber bisher ungenügend.
Dass es keinen landesweit geltenden Minimallohn gebe, bedeute auch, dass Schweizer Arbeitnehmer nur ungenügend vor Lohndumping geschützt seien, wenn Arbeitnehmer sich nach billigeren Arbeitskräften aus anderen Ländern umsähen, so Lauener.
George Sheldon, Professor für Arbeitsmarktökonomie an der Universität Basel, weist darauf hin, dass viele Arbeitende in der Schweiz Verträgen unterstehen, die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgehandelt werden (Gesamtarbeitsvertrag, GAV). Diese Verträge hätten de facto einen Minimallohncharakter.
«Wir haben keine negativen Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf die Lohnentwicklung in der Schweiz gefunden», sagt Sheldon.
Trotzdem fordern Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei (SP) schärfere Massnahmen, um gegen allfälliges Lohndumping vorgehen zu können.
«Es gibt noch immer Lücken, das ist unanfechtbar. Es braucht echte Sanktionsmöglichkeiten gegen dumpende Unternehmen», schrieb SP-Generalsekretär Thomas Christen jüngst in einem Blog auf der SP-Website. Er forderte auch mehr Mittel für gemeinnützigen Wohnraum und mehr Rechte für Mieter, um die negativen Auswirkungen abzufedern, welche der freie Personenverkehr auf bezahlbaren Wohnraum hatte.
Unter Druck
Kritiker des Personenfreizügigkeits-Abkommens führen den wachsenden Druck auf bezahlbaren Wohnraum und auf die Infrastruktur als Gründe an, wieso Einwanderungslimiten aufrechterhalten werden sollten.
Die Organisation Ecopop (Association Ecologie et Population) hat eine Volksinitiative lanciert, die zum Ziel hat, die jährliche Zuwanderung auf 0,2 Prozent der Bevölkerung zu begrenzen.
«Das Bruttoinlandprodukt ist zwar gestiegen, aber nicht, wenn man es auf die einzelne Person herunterbricht», sagt Sabine Wirth vom Ecopop-Initiativkomitee gegenüber swissinfo.ch zu den Beweggründen für die Initiative. Es gebe daneben andere Faktoren wie die Menge des Verkehrs auf den Autobahnen.
Laut Martin Baltisser, Generalsekretär der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), sollte die Schweiz eine Neuverhandlung des Personenfreizügigkeits-Abkommens mit der EU in Betracht ziehen. Zumindest müsste sichergestellt werden, dass die Zuwanderungs-Kontingente für die letzten beiden EU-Staaten Bulgarien und Rumänien so lange wie möglich in Kraft blieben.
«Für uns ist klar, dass die negativen Auswirkungen des Abkommens immer offensichtlicher werden», so Baltisser.
Das Personenfreizügigkeits-Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union ist am 1. Juni 2002 in Kraft getreten.
Es galt für die 15 «alten» EU-Staaten sowie Malta und Zypern. Bis zum 1. Juni 2007 unterlag die Zuwanderung aus diesen Staaten einer Kontingentierung.
Für Bürgerinnen und Bürger aus Norwegen, Liechtenstein und Island kommt ein ähnliches Abkommen zur Anwendung.
2005 wurde die Ausdehnung des Personenfreizügigkeits-Abkommen auf die acht Länder, die der EU 2004 beigetreten waren – Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn – vom Volk gutgeheissen.
Die Ausdehnung trat am 1. April 2006 in Kraft. Während einer Übergangsfrist bis zum 30. April 2011 galten für die acht Staaten noch Zuwanderungs-Kontingente.
Im Februar 2009 hiess das Schweizer Volk die Weiterführung des Personenfreizügigkeits-Abkommens und die Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien gut, die der EU 2007 beigetreten waren.
Für die beiden Staaten können die Zuwanderungs-Quoten bis 2016 aufrechterhalten werden.
Auch Deutschland und Österreich öffnen ihre Grenzen am 1. Mai für Arbeiter aus den 8 EU-Ländern Osteuropas.
Die beiden Länder hatten 2004 aus Angst vor Einwanderungswellen eine Verzögerung der Öffnung von 7 Jahren für Arbeiter aus diesen Ländern bewirkt.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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