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Abstimmungen vom 18. Juni 2023

Nach der OECD-Abstimmung: Die Schweiz setzt auf Kooperation

Pascal Saint-Amans
Pascal Saint-Amans war in den letzten 15 Jahren als Steuerdirektor der OECD der Architekt der internationalen Steuerreform. Patricia De Melo Moreira / AFP

Die Schweizer Stimmberechtigten haben die OECD-Steuerreform angenommen. "Die Schweiz hat verstanden, dass es besser ist, am Verhandlungstisch zu sitzen, als sich selbst Steine in den Weg zu legen", sagt Initiator Pascal Saint-Amans im Interview.

Die Schweizer Bevölkerung hat sich von der Idee einer Mindestbesteuerung für Grosskonzerne überzeugen lassen. Das Projekt der OECD und der G20, das wenig umstritten war, erhielt bei der eidgenössischen Abstimmung am Sonntag eine grosse Mehrheit.

Gemäss Beschluss müssen nun alle multinationalen Unternehmen mit einem Jahresumsatz von über 750 Millionen Euro eine Mindeststeuer von 15% zahlen.

Der Architekt der Reform, die von weiteren 140 Ländern übernommen wurde, ist Pascal Saint-Amans, der auch die Verhandlungen mit der Schweiz führte. Es sei keine leichte Aufgabe gewesen, sagt der langjährige Steuerchef der OECD im Interview.

SWI swissinfo.ch: Wie sehr erfüllt es Sie als Architekt dieser Reform mit Stolz, dass sie von einem souveränen Volk in einer Abstimmung angenommen wurde?

Pascal Saint-Amans: Es freut mich, dass so viele Staaten weltweit dieses Abkommen umgesetzt haben, einschliesslich der Schweiz. Trotz ihrer besonderen Geschichte im Steuerbereich hat sie erkannt, dass es wichtig ist, mit anderen Ländern zusammenzuarbeiten.

Sie ist das einzige Land, das seine Bevölkerung über die Reform abstimmen liess. Es ist das Ergebnis von 15 Jahren harter Arbeit bei der Entwicklung gemeinsamer Regeln.

Pascal Saint-Amans wurde an der französischen Hochschule für Verwaltung, ENA, ausgebildet und arbeitete für das französische Finanzministerium.

2007 wechselte er zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), wo er 2012 die Leitung des Zentrums für Steuerpolitik und -verwaltung übernahm.

Diese Position hatte er bis Ende Oktober 2022 inne, als er ans Zentrum für Steuerpolitik der Universität Lausanne wechselte.

Als hochrangiger Beamter führte er über mehrere Jahre hinweg die Verhandlungen mit der Schweiz, um das Bankgeheimnis zu beenden. Dies erreichte er im Jahr 2017, als die Schweiz den automatischen Informationsaustausch einführte.

Während den letzten 15 Jahren war Saint-Amans massgeblich am Aufbau der internationalen Steuerreform beteiligt.

Inwiefern beeinflusst das Schweizer Votum die weltweite Umsetzung der Reform?

Tatsächlich haben wir nun die «kritische Masse» erreicht: Die G7-Länder und viele G20-Länder, aber auch Staaten, die einen Grossteil ihrer Wirtschaft auf Steuerwettbewerb aufgebaut haben, wie die Schweiz oder die Vereinigten Arabischen Emirate, haben die Reform eingeführt. Selbst wenn die USA und China sie nicht annehmen, wird sie ihre Wirkung entfalten können.

Kann man wirklich auf die USA verzichten?

Ja, denn die Reform wurde so konzipiert, dass, wenn ein Land nicht mitmacht, in einem anderen Land zusätzliche Steuern verlangt werden können. Sobald also genügend Staaten die Reform umgesetzt haben, kann die Mindeststeuer auch auf Unternehmen in Ländern angewendet werden, die nicht teilnehmen.

Die USA haben sie beispielsweise nicht übernommen. Dennoch werden US-Konzerne, die von Steuerregelungen unter 15% profitieren, weil sie beispielsweise ihre Gewinne auf den Bermudas angesiedelt haben, trotzdem mit mindestens 15% besteuert.

Diese Massnahme erfolgt nicht in den USA, sondern in Europa, Japan oder anderen Ländern, welche die Mindeststeuer angenommen haben.

Während des gesamten Prozesses hat die Schweiz Widerstand gegen eine Erhöhung des Steuersatzes geleistet. Hat der Bund der Reform Steine in den Weg gelegt?

Die Schweiz hat lediglich ihre Interessen verteidigt. Aufgrund ihrer hoch entwickelten Wirtschaft, die grösstenteils auf sehr attraktiven Steuersystemen beruht, hatte sie ein Interesse daran, die Auswirkungen der weltweiten Mindeststeuer zu begrenzen.

Nach Ende des Bankgeheimnisses wurde jedoch klar, dass andere Länder die Reformen auch ohne die Schweiz umsetzen können. Deshalb hat sie erkannt, dass es besser ist, am Verhandlungstisch zu sitzen und Einfluss auszuüben, anstatt sich selbst Steine in den Weg zu legen.

In der Schweiz haben sich die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften gegen die Reform ausgesprochen, da sie der Meinung sind, dass nur reiche Kantone profitieren würden, in denen viele Grosskonzerne ansässig sind. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Diese Kritik betrifft nur die Situation in der Schweiz und hat nichts mit der globalen Steuerreform zu tun. Es geht um die Umverteilung von Geldern innerhalb der Eidgenossenschaft.

Daher möchte ich diese Debatte nicht kommentieren. Der Bund muss das richtige Gleichgewicht in der Souveränitätsfrage selbst finden.

Die gleiche Kritik findet man aber auch auf internationaler Ebene. Die Reform wird von den Entwicklungsländern stark kritisiert. Sie sind der Meinung, dass die Erhöhung des Steuersatzes nur den reichen Ländern zugutekommt. Ist das so?

Nein. Die Entwicklungsländer verzichten derzeit auf viele Einnahmen, weil sie Steuerbefreiungen gewähren, um Investitionen anzuziehen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diese Steuergeschenke abzuschaffen.

Diese werden sowieso verschwinden, denn wenn die Länder multinationale Unternehmen nicht besteuern, werden es andere tun. Ich glaube, dass die Kritik grösstenteils auf einem Unverständnis der Mechanismen beruht.

In den rohstoffreichen Ländern des Südens liegt der Steuersatz in der Regel zwischen 25% und 35%. Inwiefern werden diese Staaten also von der Mindeststeuer profitieren?

Die Reform sieht nicht vor, dass Gewinne, die ein Unternehmen in einem Land erzielt, mit bloss 15% besteuert werden. Der Satz kann weiterhin 25% oder noch mehr betragen.

Die Reform zielt darauf ab, Gewinne zu besteuern, die von multinationalen Konzernen im Ausland erzielt wurden und bisher der Besteuerung entzogen wurden.

Besteht aber nicht die Gefahr, dass diese Länder unter Druck gesetzt werden, ihre Steuersätze auf den OECD-Mindestsatz zu senken, wie einige NGOs behaupten?

Nein, das glaube ich nicht.

Die grossen Internetkonzerne sind derzeit von dieser Reform ausgenommen. Wie können sie zur Kasse gebeten werden?

Sie entgehen ihr nicht. Bisher wurden ihre Gewinne kaum besteuert, aber zukünftig werden sie ebenfalls dem Mindeststeuersatz von 15% unterliegen. Noch offen ist, wo diese Konzerne ihre Gewinne anlegen sollen.

Dies ist jener Teil der Reform, der als «Säule 1» bekannt ist. Er sieht vor, dass ein Viertel der Rendite dieser Unternehmen den Ländern zugutekommt, in denen sie ihre Waren verkaufen oder ihre Dienstleistungen erbringen.

Warum ist diese 1. Säule schwieriger umzusetzen als die 2. Säule, also die Mindeststeuer?

Die globale Mindeststeuer erfordert lediglich, dass die innerstaatlichen Gesetze auf demselben Modell basieren. Die Staaten mussten sich also auf dieses Modell einigen und es selbst umsetzen, so wie es nun auch die Schweiz getan hat.

Die Einführung der «Säule 1» hingegen setzt auch die Unterzeichnung eines multilateralen Vertrags und dessen Ratifizierung durch die beteiligten Staaten voraus. Die politische und rechtliche Dynamik ist also eine andere. Wir erwarten, dass ein entsprechendes Übereinkommen im Juli abgeschlossen wird.

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

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