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«Ohne Freizügigkeit keine wohlhabende Schweiz»

Für die Unternehmer kann eine offene Schweiz nur gewinnen. Keystone

Im Vorfeld der nationalen Wahlen wird der freie Personenverkehr wieder zum heissen Thema, zumal ein Bericht kürzlich eine Zunahme der Missbrauchsfälle feststellte. Für Economiesuisse bleibt die Freizügigkeit aber von entscheidender Bedeutung.

Lohndumping, Einwanderung aus dem Osten, gebeutelter Mittelstand. Dies sind nur einige der Schlagworte, die im Zusammenhang mit dem freien Personenverkehr mit Ländern der Europäischen Union (EU) immer wieder auftauchen.

Cristina Gaggini, Direktorin für die französischsprachige Schweiz beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse (30’000 Firmen mit 1,5 Millionen Angestellten), antwortet auf eine Serie von oft gehörten Argumenten gegen die Personenfreizügigkeit.

swissinfo.ch: Ein Wachstum, das auf Immigration basiert, sei ein gefährlicher Weg, sagt die Schweizerische Volkspartei (SVP). Was sagen Sie dazu?

Cristina Gaggini: Unsere Position ist genau umgekehrt. Seit Einführung des freien Personenverkehrs 2002 hat das BIP stärker zugenommen als vorher. Man kann einen direkten Zusammenhang ziehen zwischen diesem Wachstum, dem Wohlstand der Schweiz und der Personenfreizügigkeit.

Man hat Jobs schaffen können, die wiederum den Kantonen und dem Bund mehr Steuereinnahmen gebracht haben. Wir ziehen eine sehr positive Bilanz dieser Bilateralen Verträge und betonen immer wieder, dass sie für die Schweizer Wirtschaft unentbehrlich sind.

Dies aus einem sehr simplen Grund: Der Schweizer Arbeitsmarkt ist zu klein, und wir finden hier nicht alle Kompetenzen, die nötig sind – Ingenieure, Techniker im Gesundheitsbereich, usw.

swissinfo.ch: Die SVP argumentiert, dass der freie Personenverkehr besonders im Gesundheits- und Sozialbereich zu mehr Jobs geführt habe, also in Bereichen, die mehrheitlich durch Steuern und Versicherungen finanziert sind. Im Privatsektor habe die Freizügigkeit aber die Verluste an Arbeitsplätzen während der Krise von 1990 bis 1995 nicht kompensiert. Stimmt das?

C.G.: Das ist ganz sicher nicht der Fall. Die Industrie beispielsweise braucht die Ingenieure. Wir führen jedes Jahr eine Umfrage bei unseren Mitgliedern durch. Es sind Unternehmen, die nichts mit dem staatlichen oder halbstaatlichen Sektor zu tun haben. Jahr für Jahr bestätigen sie uns, wie wichtig dieses Abkommen über die Personenfreizügigkeit ist.

swissinfo.ch: Die Handwerker im Bausektor sind laut gewissen Gegnern des freien Personenverkehrs die grossen Verlierer, weil sie sich mit billigeren Anbietern gleicher Leistungen konfrontiert sehen, die durch die flankierenden Massnahmen nicht genügend eingedämmt werden.

C.G.: Tatsächlich hat der letzte Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) auf Fälle von Lohndumping hingewiesen. Das Phänomen der Scheinselbständigen betrifft vor allem die Baubranche.

Daher beobachten das Seco und die verschiedenen Kontrollkommissionen, besonders kantonale, die Situation sehr genau und führen in diesem Sektor Kontrollen vor Ort durch. Wird ein Missbrauch entdeckt, wird er mit einer Busse geahndet, im Fall von Wiederholungstätern kann ein Berufsverbot in der Schweiz für fünf Jahre ausgesprochen werden.

Wirtschaftskreise unterstützen diese flankierenden Massnahmen ganz klar. Für uns ist es absolut nötig, dass eine Kontrolle gegen Lohndumping existiert. Denn in einem solchen Sinn haben wir uns die Personenfreizügigkeit nicht gewünscht. Sie soll nicht zu einem Unterlaufen des Lohnniveaus führen, denn so verlöre sie in den Augen der Leute ihre Legitimität.

swissinfo.ch: Oft hört man auch das Argument, die Mittelschicht müsse wegen dem Personenverkehr tiefere Einkommen und verschlechterte Lebensbedingungen hinnehmen. Was halten Sie davon?

C.G.: Wir haben keinen Rückgang des durchschnittlichen Einkommens festgestellt, auch nicht inflationsbereinigt.

Natürlich ist es nicht spektakulär angestiegen in den letzten zehn Jahren, aber es hat sich nach oben entwickelt. Ich sehe da keinen Zusammenhang. Somit ist dieses Argument falsch.

swissinfo.ch: Die Personenfreizügigkeit habe mehr Arbeitskräfte auf den Markt gebracht, was den Ausstieg aus der Arbeitslosigkeit erschwere und die schwächsten Arbeitnehmenden gefährde, heisst es weiter. Einverstanden mit diesem Argument?

C.G.: Wenn man die Arbeitslosenkurve anschaut, sieht man, dass wir in der Schweiz die Arbeitslosenquote sehr rasch und deutlich senken konnten. Tatsächlich sind Menschen ohne Grundausbildung in einer immer technisierteren Arbeitswelt, die nach immer mehr Kompetenzen verlangt, gefährdet – freier Personenverkehr hin oder her.

In der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bemüht man sich daher um berufliche Wiedereingliederung und fortwährende Weiterbildung, um diesen Personen zu helfen. Doch ich sehe keinen direkten Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit.

Die im Juni 2002 in Kraft getretene Personenfreizügigkeit ist eines der sieben Bilateralen Abkommen, die von der Schweiz und den damals 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) unterzeichnet wurden.

Erst galten Quoten, die 2007 abgeschafft wurden. Bürgerinnen und Bürger der Länder Liechtenstein, Island und Norwegen haben die gleichen Rechte.

Die Personenfreizügigkeit wurde im April 2006 auf acht neue EU-Mitgliedstaaten ausgeweitet. Das Schweizer Volk stimmte dem zu. Die Quoten sind seit Anfang Mai 2011 abgeschafft.

Auch auf Bulgarien und Rumänien, die der EU 2007 beitraten, wurde die Personenfreizügigkeit ausgedehnt, mit Quoten, die bis 2016 gültig sind.

2010 haben 38% der ausländischen Unternehmen, die Personen in der Schweiz beschäftigten, die in der Schweiz nach Gesamtarbeitsvertrag (GAV) geregelten Minimallöhne nicht respektiert. Das geht aus einem Anfang Mai veröffentlichten Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hervor.

In den Branchen ohne GAV waren es 12%. Die Zahl der Nichtrespektierung von Minimallöhnen hat sich gemäss dem Seco-Bericht seit 2009 erhöht.

Die höhere Anzahl der aufgedeckten und sanktionierten Missachtungen der Mindestlöhne zeigt nach Ansicht des Seco, dass die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit wirksam sind.

Für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) hingegen zeigt der Seco-Bericht «ein beunruhigendes Bild der Realität».

Um Missbräuche zu bekämpfen, fordert die Schweizer Linke die Einführung eines auf nationaler Ebene gültigen Minimallohnes.

«Wir werden uns dagegen wehren», sagt Cristina Gaggini von Economiesuisse: «Die Erfahrung aus Ländern wie Frankreich zeigt, dass die Arbeitgeber danach die Löhne nach unten anpassen. Der Arbeitnehmer ist dabei der Verlierer.»

Gaggini erinnert daran, dass im Fall von wiederholten Lohndumpings im Rahmen der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit vorgesehen ist, einem Unternehmer einen Rahmenarbeitsvertrag mit einem Minimallohn aufzuzwingen.

«So werden die missbräuchlichen Arbeitgeber bestraft, und nicht jene, die sich korrekt verhalten.»

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