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Palästinenser-Hilfswerk gewinnt Vertrauen Berns zurück

Gaza
Corona als neue Bedrohung: Jugendlicher Palästinenser vor einem Graffitti mit Corona-Viren im Flüchtlingslager Al Nusairat im Gazastreifen. Keystone / Mohammed Saber

Die Beziehung ist wieder im Lot: Dies ist das Fazit nach dem ersten offiziellen Besuch des neuen UNRWA-Generalkommissars Philippe Lazzarini beim schweizerischen Aussenminister Ignazio Cassis in Bern. Aber das ändert noch nicht viel an der dramatischen Lage seiner Organisation, wie Lazzarini im Interview sagt: die Reserven sind aufgebraucht.

Philippe Lazzarini wurde im März zum neuen Leiter der in Amman ansässigen UNO-Organisation gewählt. Diese Woche hat der schweizerisch-italienische Doppelbürger seinen Antrittsbesuch im Bundeshaus gemacht.

Und schnell ist klar: Nach der Affäre um seinen Vorgänger, die das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) 2019 erschütterte, ist das Vertrauen wiederhergestellt.

Philippe Lazzarini
Philippe Lazzarini. UNRWA

Vom zweitägigen Besuch bei Cassis, dem Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), kehrt Lazzarini nicht mit leeren Händen nach Amman zurück: Für die Jahre 2021 und 2022 unterstützt die Schweizer Regierung die UNRWA mit je 20 Millionen Franken. Zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie hat die Schweiz den Beitrag gar noch um zwei Millionen Franken aufgestockt.

Noch im letzten Jahr hatte Cassis nicht an harter Kritik an der UNO-Organisation gespart. Dies, nachdem der Schweizer Pierre Krähenbühl als UNRWA-Generalkommissar abtreten musste. Auslöser waren Vorwürfe über seine Managementmethoden.

Das sind «Tempi passati»: Cassis hat Lazzarini ferner zugesichert, dass die Schweiz auch die Reformen der Institution und die internationale Konferenz unterstützen werde, die das UNRWA im kommenden Frühjahr zur Sicherung seiner Zukunft plant.

Der Wind hat sich also gedreht. Freuen können sich der neue Leiter, aber primär die palästinensischen Flüchtlinge im Nahen Osten. Aber noch ist nicht gesichert, ob Lazzarinis UNO-Agentur Ende Jahr die Gehälter für ihre 30’000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird auszahlen können. Das heisst: Schulen, Gesundheitszentren und soziale Dienste, die das UNRWA in den Lagern unter seiner Verantwortung unterhält, stehen immer noch auf der Kippe.

swissinfo.ch: Sie haben wiederholt darauf hingewiesen, dass sich das UNRWA in einer finanziellen Notlage befindet. Ist die Situation so dramatisch, wie Sie sie schildern?

Philippe Lazzarini: Wir befinden uns in einer aussergewöhnlichen und gefährlichen Situation, wie sie die Agentur in ihrer Geschichte noch nie erlebt hat. Es ist vergleichbar mit einem Flugzeug, das bald eine Notlandung machen muss, um einen Absturz zu vermeiden.

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Diese Liquiditätskrise beunruhigt eine Region, die bereits unter Stress steht. Auch durch die Auswirkungen der Pandemie. Das verstärkt die Verzweiflung, in der sich die palästinensischen Flüchtlinge befinden angesichts einer Zukunft, die ihnen blockiert erscheint,.

Diese Haushaltsprobleme kommen zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt: Angesichts des ständig wachsenden Bedarfs sind wir finanziell noch nie so geschwächt worden.

Ich kündige seit Monaten an, dass die Agentur ihre Dienste nicht länger aufrechterhalten kann. Nun sind wir so weit: Seit dem 9. November haben wir kein Geld mehr in unseren Kassen, um die Gehälter für November und Dezember bezahlen zu können.

Der Zweck meiner Aufrufe besteht darin, alle Aktivitäten und Teams aufrechtzuerhalten, damit wir den Schulbetrieb für mehr als eine halbe Million Mädchen und Jungen aufrechterhalten können. Dasselbe gilt für unsere

Gesundheitszentren, denn wir stehen inmitten dieser Covid-19-Pandemie. Die Region leidet unter bitterer Armut, und wir versuchen, ein Minimum an sozialen Diensten bereitzustellen.

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Palästinensische Schulkinder beobachten einen israelischen Drohnenangriff auf das Flüchtlingslager Al-Shati in Gaza (Bild vom August 2020). Keystone / Mohammed Saber

Wenn mir bis Ende dieses Monats keine Informationen von den Geldgebern vorliegen, werde ich Entscheidungen treffen müssen, die sich auf unsere Dienste auswirken werden. Dies wird unter den bereits verzweifelten Flüchtlingen sicherlich Panik auslösen.

Hat die Schweiz Ihre Erwartungen erfüllt?

Im Grossen und Ganzen. Unser Austausch verlief gut, auch bezüglich des Budgets. Und Bern unterstützt unser Reformprogramm, das im Zentrum der Strategie des UNRWA für die kommenden Jahre steht. Dazu konnte ich mit einer Reihe von Parlamentariern sprechen, die über unsere Arbeit und die Situation im Nahen Osten besorgt sind.

Ist die Krise, die es um Ihren Vorgänger gab, ausgestanden?

Meiner Meinung nach wurde das Blatt gewendet. Das sind die Informationen, die ich von Spendern und Mitgliedstaaten erhalte. Die im vergangenen Jahr eingesetzte Mannschaft wurde ersetzt. Es wurden zahlreiche Reformen durchgeführt, um das Management effizienter und transparenter zu gestalten und die Teams agiler zu machen.

Ich bin voll und ganz an der Fortsetzung und Vertiefung dieser Veränderungen beteiligt. Und das Feedback, das ich von unseren Partnern erhalte, zeigt, dass das Vertrauen vollständig wiederhergestellt wird.

Wie sehen Sie die Zukunft?

Das derzeitige Finanzierungsmodell ist nicht nachhaltig. Jahr für Jahr wächst die Kluft zwischen den Kosten für die von uns erbrachten Dienstleistungen und den zur Verfügung gestellten Ressourcen weiter. Die politische Unterstützung, die wir erhalten, lässt sich finanziell nicht gut umsetzen.

Deshalb werden wir für das nächste Frühjahr eine internationale Konferenz einberufen. Dort werden wir die Strategie für die kommenden Jahre vorstellen, um die Beiträge der Mitgliedstaaten zu sichern und vor allem mehrjährige Verpflichtungen zu fördern, damit wir bei der Organisation unserer Aktionen etwas mehr Vorausschau haben.

Auch hier erwarte ich von befreundeten Ländern wie der Schweiz, dass sie uns helfen, diese Unterstützung von den Mitgliedstaaten zu erhalten, damit sich das UNRWA die Ziele und Strategie seiner Mission wieder aneignen kann.

Das UNRWA hat den Auftrag, quasi-staatliche Dienstleistungen zu erbringen: Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Dienste für eine Bevölkerung von 5,8 Millionen Menschen. Aber wir können nicht Einnahmen generieren wie Regierungen, also weder Steuern erheben noch Kredite aufnehmen. Wir sind auf freiwillige Beiträge angewiesen, die sich heute im Vergleich zu 2012 auf einem extrem tiefen Niveau befinden. Aber seit damals hat die Region mehrere Krisen durchlebt, die zu einem erheblichen Anstieg des Bedarfs geführt haben.

2018 zogen sich die USA zurück – und mit ihnen der jährliche Beitrag von 360 Millionen Dollar. Haben Sie einen Hinweis auf die Haltung der nächsten amerikanischen Regierung gegenüber des UNRWA?

Die Vereinigten Staaten waren in den letzten Jahrzehnten ein wichtiger Partner der Agentur. Ich hoffe, dass diese Partnerschaft wiederbelebt wird, wenn die neue Regierung im Amt ist.

In den letzten Jahren haben wir unsere Kontakte mit Mitgliedern des US-Kongresses, des Senats und der Verwaltung auf der Feldebene gepflegt. Und die Informationen, die wir heute erhalten, sind positiv. Es bleibt abzuwarten, wann und in welchem Umfang die Partnerschaft wiederauflebt.

Die Anteile der Mitgliedstaaten decken nur die Führungsstruktur der Organisation ab, d.h. 150 Stellen von den 30’000 Mitarbeitenden der UNO-Agentur.

Das für 2020 geplante reguläre Budget beläuft sich auf mehr als 800 Millionen Dollar, dazu kommen drei Nothilfeprogramme mit insgesamt rund 500 Millionen Dollar. Bisher ist erst je rund die Hälfte dieser verschiedenen Budgets finanziert.

Die UNO gründete das UNRWA 1949 nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg. Heute unterstützt die Organisation 5,8 Millionen palästinensische Flüchtlinge im Libanon, in Syrien, Jordanien und den palästinensischen Gebieten des Gazastreifens und des Westjordanlands.

Die Agentur betreibt 711 Schulen mit über einer halben Million Kindern. Sie betreibt 144 Gesundheitszentren, die von 3,6 Millionen palästinensischen Flüchtlingen besucht werden. Das UNRWA garantiert zudem rund 270’000 Flüchtlingen Unterstützung in Form von Nahrungsmitteln und gezielter Bargeldhilfe.

Philippe Lazzarini, seit März 2020 UNRWA-Generalkommissar, ist eine der hochrangigsten Persönlichkeiten der Schweiz bei den Vereinten Nationen.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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