Papst Franziskus: «Der Ukrainekrieg ist ein Weltkrieg»
Das Geld oder vielmehr dessen falscher Gebrauch entferne die Menschen von Gott und bringe sie unter anderem dazu, Krieg zu führen, sagt Papst Franziskus in einem Interview mit dem Schweizer Radio und Fernsehen.
Vom Ukrainekrieg bis zu sexuellem Missbrauch: Papst Franziskus gab dem italienischsprachigen Schweizer Radio und Fernsehen RSI anlässlich des zehnten Jahrestags seiner Besteigung des Papstthrons ein Interview.
Dabei erwähnt der Papst auch die Schweiz – ein Land «mit einer eigenen Persönlichkeit» und gleichzeitig «universell». Hier einige Auszüge aus dem Gespräch am Heiligen Stuhl im Vatikan.
+ Das ganze Interview (auf Italienisch) finden Sie hierExterner Link.
RSI: Mehrmals haben Sie zum Frieden in der Welt aufgerufen. Es gibt aber viele Kriege. Warum ist es so schwierig, das Drama des Kriegs zu verstehen?
Papst Franziskus: Für mich ist der Krieg ein Verbrechen, er ist falsch. In etwas mehr als hundert Jahren hat es drei Weltkriege gegeben: 14-18, 39-45 und diesen, der ein Weltkrieg ist.
Er begann schrittweise, und heute kann niemand mehr sagen, dass er nicht weltweit ist. Denn die Grossmächte sind alle darin verwickelt. Und das Schlachtfeld ist die Ukraine. Alle kämpfen dort.
Da muss man auch an die Rüstungsindustrie denken, eine grosse Industrie. Ein Techniker sagte mir: Wenn ein Jahr lang keine Waffen mehr produziert würden, wäre das Problem des Welthungers gelöst.
Es ist ein Markt. Kriege werden geführt, alte Waffen werden verkauft, neue werden getestet. Vor zwei Monaten war die Rede von einer seltsamen Drohne, die neue Waffen testet. Dafür sind Kriege da, um Waffen zu testen.
Wenn sie andere Dinge für den menschlichen Fortschritt ausprobieren würden, ich denke da an Bildung, Nahrung und Medizin, wäre das schön.
Der italienische Schauspieler und Regisseur Roberto Benigni sprach kürzlich am Musikfestival in Sanremo über den Krieg. Dabei zitierte er einen Artikel der italienischen Verfassung, der besagt, dass Italien den Krieg ablehnt. Und er sagte, wenn jedes Land diesen Artikel in seiner Verfassung hätte, gäbe es keinen Krieg mehr. Aber es ist schwierig…
Es ist schwierig, es gibt gewisse Interessen. Der schlimmste Feind des Menschen ist sein Geldbeutel. Der Teufel dringt durch den Geldbeutel ein. Es hat mich immer beeindruckt, wenn Jesus sagt, dass man nicht zwei Herren dienen kann. «Ihr dient Gott…».
Ich hatte erwartet, dass er sagen würde: «Entweder ihr dient dem Teufel, …», aber er sagt nicht «dem Teufel». Er sagt: «Entweder ihr dient Gott, oder ihr dient dem Geld.» Das ist merkwürdig. Jesus verteufelt den falschen Umgang mit Geld.
Wenn ein Mensch nicht weiss, wie man Geld gut für die Bildung, für die Familie, für die Hilfe für andere einsetzt, und es selbstsüchtig verwendet, dann endet er schlecht. Dann endet er ohne Gott, weit weg von Gott, mit einem Gott, der sein Geldbeutel ist.
Ist der aktuelle Weltkonflikt Ihrer Meinung nach auch darauf zurückzuführen?
Ja, es gibt immer etwas, das man [in seinen Geldbeutel] einstecken kann.
Vor dem Konflikt haben Sie sich mehrmals mit Wladimir Putin getroffen. Wenn Sie ihn heute treffen würden, was würden Sie ihm sagen?
Ich würde mit ihm so deutlich sprechen, wie ich es in der Öffentlichkeit tue. Er ist ein gebildeter Mann. Ich habe ihm angeboten, zu ihm zu gehen.
Am zweiten Tag des Kriegs ging ich zur russischen Botschaft am Heiligen Stuhl, um zu sagen, dass ich bereit sei, nach Moskau zu gehen, wenn Putin mir ein Zeitfenster für Verhandlungen geben würde. Sergei Lawrow [der Aussenminister, Anm. d. Red.] schrieb mir zurück: «Vielen Dank, aber das ist nicht der richtige Zeitpunkt.»
Ich weiss, dass Putin das gehört hat; er weiss, dass ich zur Verfügung stehe. Aber es gibt dort imperiale Interessen, nicht nur die des russischen Imperiums, das seit der Zeit von Peter I. und Katharina II. imperial ist, sondern auch die von anderen Imperien. Und ein Imperium hat die Aufgabe, die Nationen an die zweite Stelle zu setzen.
Und wie ist Ihr Verhältnis zu Patriarch Kyrill?
Ich habe mit ihm telefoniert… Ich hatte vor einem Jahr ein zweites Treffen mit Kyrill geplant. Aber wegen des Kriegs haben wir es ausgesetzt und auf die Zeit nach dem Krieg verschoben.
Neulich kam Metropolit Antonij, er ist Kyrills Stellvertreter, ein guter Mensch, er war Pfarrer in Rom, mit einem Brief von Kyrill. Wir bleiben immer in Kontakt mit den orthodoxen Patriarchen. Mit Bartholomäus sind wir Brüder. Ein guter Mensch ist der koptische Theodore II, ein Mann Gottes. Aber ich habe mit allen einen guten Kontakt.
Welche anderen Kriege gehen Ihnen nah?
Der Jemen-Konflikt, der schon seit mehr als zehn Jahren andauert. Syrien, ebenfalls seit mehr als zehn Jahren. Die armen Rohingya in Myanmar, die leiden.
Warum dieses Leiden, wo doch der Frieden so schön ist und den Menschen gut tut? Kriege tun weh. Es ist nicht der Geist Gottes, der einen Krieg antreibt. Ich glaube nicht an heilige Kriege.
Obwohl es in der Vergangenheit einige gab, die daran glaubten.
Ja, aber das war eine andere historische Epoche.
Benedikt hat damit begonnen, und Sie haben diesen Weg in Bezug auf den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch Priester fortgesetzt. So viele Schritte nach vorn, aber warum bleibt das Problem trotzdem bestehen?
Wir sind Menschen. Kennen Sie die Statistiken? Sie sind schrecklich. Vierzig Prozent des Missbrauchs finden in der Familie und in der Nachbarschaft statt. Und das ist auch heute noch der Fall. Dann die Sportwelt, dann die Schulen…
Drei Prozent werden von katholischen Priestern begangen. Ist das wenig? Nein, das ist zu viel! Selbst wenn es nur ein einziger Fall wäre, wäre es eine Brutalität. Denn der Priester ist dazu da, Menschen wachsen zu lassen, sie zu heiligen. Und nicht, durch Missbrauch ein Leben zu ruinieren. Und deshalb hatte Benedikt den Mut zu sagen: Nein, wir müssen vorwärtsmachen.
Das ist nicht einfach. Manchmal wird man zu Unrecht beschuldigt, und man muss unterscheiden. Manchmal sind Vorwürfe wahr und man muss ihnen nachgehen. Wir haben auch mit einigen Bischöfen Entscheide getroffen; Wenn ein Missbrauchsfall auftritt, führen sie die Untersuchung durch.
Vom Boston-Skandal, mit dem alles begann, bis heute hat sich die Kirche weiterentwickelt. Vor drei Monaten hatte ich ein Treffen mit Leuten von einer Gruppe, die in Brasilien arbeitet. Sie sagten: In der Welt der Familie sind es 46%. Das deckt sich [mit der Statistik].
Heute machen sie in der Familie oder in den Stadtvierteln das Gleiche wie wir schon länger: Jetzt wird nicht mehr vertuscht. Aber es gibt Anklagen und viel menschliches Elend, von den Sünden der Priester und Bischöfe. Aber wir müssen vorangehen, Gott ist grösser als das. Gott wird uns nicht verzeihen, wenn wir da nicht vorwärtsmachen.
Sie haben auch schon mehrfach Missbrauchsopfer empfangen. Was sagen Sie ihnen?
Ich höre ihnen zu. Einmal war es schön, in Irland. Es waren sechs oder sieben erwachsene Männer, jeder mit seiner eigenen Geschichte. Sie wurden als Jungen missbraucht.
Ich musste am nächsten Tag in der Predigt um Vergebung bitten. Und ich fragte sie: «Warum machen wir die Predigt am nächsten Tag nicht gemeinsam?»
Diese Begegnung war wunderschön, weil sie mir geholfen haben, das Geheimnis dieser Sache zu verstehen. Sie können gut mit Leiden umgehen.
Ein anderes Mal kam eine Gruppe englischer Männer, die in einem Internat missbraucht worden waren. Jetzt sind sie alt, sie wurden als Kinder missbraucht. Damals wurde alles vertuscht. Das ist menschliches Elend.
Aber etwas, was ich nicht verstehen kann, ist die Kinderpornographie im Netz. Sie filmen sich selbst live. Wissen Sie, in welchem Land das gemacht wird, in welcher Stadt? Das weiss niemand. Können die Geheimdienste nicht herausfinden, wo das passiert?
Man kann es auf seinem Handy anschauen, und es sät das Böse in einem. Man sieht, wie ein Kind missbraucht wird, mit den schmutzigsten Dingen. Dies ist ein Appell an alle: Wenn Sie wissen, dass so etwas passiert, melden Sie es. Das ist wichtig.
Themenwechsel: Wie nehmen Sie die Schweiz wahr?
Die Schweiz hat ihre eigene Persönlichkeit, aber sie ist universell. Wenn die Schweiz in Kriegen neutral bleibt, dann ist das kein destilliertes Wasser, dann wäscht man sich nicht die Hände in Unschuld, sondern es ist eine Berufung zum Gleichgewicht, zur Einheit.
Ich mag die Schweizerinnen und Schweizer. Es ist merkwürdig: Jede Gegend hat ihre eigene Persönlichkeit. Ich sehe das hier bei den Schweizergardisten. Die Tessiner sind uns näher, die Genfer sind französischer, und jene aus der deutschsprachigen Region haben eine andere Persönlichkeit. Aber sie sind gut. Die Schweizer haben eine schöne Menschlichkeit.
Die Schweiz war auch ein fruchtbarer Boden für die Reformation: Luther und Calvin wollten ursprünglich die Kirche reformieren, sie läutern. Auch heute noch hat der Protestantismus diese Berufung in seiner DNA. Was meinen Sie dazu?
Ich denke, dass die Kirche immer reformiert werden muss. Das Sprichwort sagt: Ecclesia sempre reformanda… Die Heiligen wollten das auch machen.
Luther und Calvin waren Männer des guten Willens. Aber es waren schlimme Zeiten, die zu dieser Trennung der Kirchen führten. Jetzt, mit dem ökumenischen Dialog, sind wir dabei, uns brüderlich zu versöhnen. Gott sei Dank können wir gemeinsam beten. Wir können gemeinsam Nächstenliebe üben, wir können den Weg gemeinsam gehen und uns langsam annähern.
Und schliesslich studieren kirchliche Fachleute, um Einheit zu schaffen. Es gibt einen grossen orthodoxen Theologen, der kürzlich gestorben ist, Ioannis Zizioulas, der die Laudato si› [das zweite Buch von Papst Franziskus, Anm. d. Red.] vorgestellt hat.
Dieser grosse Theologe, der auf die Eschatologie spezialisiert ist, sagte: «Wir tun Gutes, wir beten und wir gehen zusammen, aber lasst die Theologen studieren.» Auf die Frage, wann die Zeit kommen wird, in der sie zueinander finden werden, antwortete er: «Vielleicht in der Eschatologie.» Er hatte einen Sinn für Humor.
Aber das Wichtigste ist, dass wir zusammen diesen Weg gehen, als Brüder. Lasst uns nicht streiten, sondern gemeinsam Gutes tun und gemeinsam beten.
Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub
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