Paradox der Kapitalflüsse: Finanzieren Schwellenländer die reichen?
Es ist ein Rätsel für Ökonominnen und Ökonomen: Anstatt von den Industrieländern in die Entwicklungsländer zu fliessen, gehen Kapitalströme meist in die entgegengesetzte Richtung. Jährlich sollen Hunderte von Milliarden Dollar aus Schwellenländern in reiche Länder fliessen, darunter auch die Schweiz.
Mehr als 160 Milliarden Dollar – das entspricht in etwa dem Bruttoinlandprodukt (BIP) Ungarns – ist der «beispiellose» Betrag an öffentlicher EntwicklungshilfeExterner Link (ODA), den die Industrieländer im Jahr 2020 bereitstellen werden. Das gab die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungExterner Link (OECD) in diesem Frühjahr bekannt.
Schon vor der globalen Gesundheitskrise stieg die öffentliche Entwicklungshilfe stetig an und hat sich seit 2000 mehr als verdoppelt. Jährlich wurden durchschnittlich 120 Milliarden Dollar ausgezahlt.
Viele Fachleute relativieren jedoch den Umfang der von den OECD-Ländern geleisteten Hilfe. Das liegt daran, dass viele Mitglieder, darunter auch die Schweiz, ihren internationalen Verpflichtungen nicht nachkommen (SWI swissinfo.ch hat darüber berichtet).
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Solidarität «soweit es die wirtschaftliche Lage zulässt»
Und einige argumentieren, dass dies auch den Gedanken fördern könnte, dass das Geld von den Geberländern in eine Richtung zu den Entwicklungsländern fliesst, während reiche Staaten weit mehr Finanzströme von den Schwellenländern erhalten als umgekehrt.
Anhaltendes Defizit
Aber das sei «minimal im Vergleich zum Ausmass der Ungleichgewichte», sagt Rachid BouhiaExterner Link, Wirtschaftswissenschaftler bei der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf.
Bouhia ist Leiter des Bereichs Wirtschaft in der Abteilung Globalisierungs- und Entwicklungsstrategien und Mitverfasser eines im Frühjahr 2020 veröffentlichten StrategiepapiersExterner Link.
Die Untersuchung zeigt, dass der Gesamtbetrag der Finanzströme aus den Entwicklungsländern jenen der reichen Länder bei weitem übersteigt (Entwicklungshilfe, aber auch ausländische Direktinvestitionen und Handelsströme).
Da es sich um ein globales Phänomen handelt, lässt sich nicht abschätzen, in welchem Umfang die Schweiz davon profitiert. Aber aufgrund ihres Status als führendes Wirtschaftszentrum erfülle die Schweiz «viele Voraussetzungen», um ausländische Finanzströme anzuziehen und zu den Ländern zu gehören, die von diesem System profitieren würden, sagt Rachid Bouhia.
Als eine der weltweit wichtigsten Drehscheiben für den Rohstoffhandel und als Sitz zahlreicher multinationaler Unternehmen, die in Entwicklungsländern tätig sind, ist die Schweiz auch dem Risiko ausgesetzt, illegale Finanzströme anzuziehen (siehe unten). Nichtregierungs-Organisationen (NGO) fordern die Schweiz regelmässig auf, mehr zu tun, und kritisieren ihr immer noch ungerechtes Banken- und Steuersystem.
Gilles Carbonnier, Professor für Entwicklungsökonomie, stellt fest, dass «die Schweiz auf multilateraler Ebene Anstrengungen (…) mit einer Reihe von Massnahmen unternommen hat, die auf ein gerechteres Steuersystem abzielen», dass aber «noch ein langer Weg vor uns liegt».
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Wie die Schweiz von Entwicklungshilfe profitiert
Dieses Phänomen «widerspricht den neoklassischen Wirtschaftstheorien, nach denen das Kapital von Natur aus von den reichen Ländern in die kapitalschwachen fliessen sollte», sagt Bouhia.
Die Kapitalflucht ist das Ergebnis mehrerer Faktoren, hängt aber besonders mit der «finanziellen Anfälligkeit der Auslandverschuldung von Entwicklungsländern» zusammen, heisst es im Strategiepapier.
Einige Länder wurden ermutigt, sich im Ausland zu verschulden, um sich weiterzuentwickeln. Dadurch haben sie eine sehr hohe Verschuldung erreicht, was zu einer Spirale führt, in der die Zinszahlungen und Gewinntransfers die Einnahmen übersteigen.
Bouhia verweist auch auf das Handelsbilanz-Defizit vieler Schwellenländer, die mehr importieren als sie exportieren oder Rohstoffe exportieren, deren Kosten stark schwanken.
Ein weiteres Element ist, dass «die Entwicklungsländer, um sich vor Risiken zu schützen, einen Wettlauf um die Anhäufung von Fremdwährungen begonnen haben, namentlich von Dollars». Das entspricht einem Kapitalabfluss für das Land, das kauft, und einem Zufluss für das Land, das die Währung herstellt.
Illegale Geldflüsse in zweistelliger Milliardenhöhe
Das kumulierte Defizit der Entwicklungsländer zwischen 2000 und 2017 würde sich somit auf fast 11’000 Milliarden Dollar belaufen. Und dies sind nur die offiziellen Zahlen, welche die illegalen FinanzströmeExterner Link (IFF, siehe UNCTAD-Grafik) nicht berücksichtigen.
Dazu gehören kriminelle Transaktionen, Geldwäsche, Steuerhinterziehung, usw., aber vor allem der legale Handel, «der nicht korrekt in Rechnung gestellt wird (…), um Steuern zu optimieren», sagt Gilles CarbonnierExterner Link, Professor am Genfer Graduate Insitute für Internationales und Entwicklung (IHEID).
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Diese illegalen Geldströme sind naturgemäss nicht genau zu beziffern. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Milliarden Dollar hätten somit keine Aussicht, den Entwicklungsgeldern angerechnet zu werden.
Nicht alles ist schwarz oder weiss
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Liliana Rojas-SuarezExterner Link warnt davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. Aggregierte Methoden könnten weder die spezifische Situation der Länder noch die Komplexität des Handels widerspiegeln, sagt die Forscherin des Center for Global Development (CGDev) in Washington.
Die Expertin für den Zusammenhang zwischen Finanzströmen und Entwicklung betont, wie wichtig es sei, diese nicht nur unter quantitativen, sondern auch unter qualitativen Gesichtspunkten zu betrachten.
Investitionen, die für die Entwicklung von zentraler Bedeutung seien, erforderten umfangreiche Transfers von Ressourcen, sagt sie. In Bezug auf die Verschuldung «ist es wirklich wichtig, zu wissen, ob die fremdfinanzierten Mittel für wachstums- und beschäftigungsfördernde Aktivitäten verwendet wurden».
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Ein Symptom, mehrere Lösungswege
Da für ein und dasselbe Symptom mehrere Diagnosen erstellt werden können, werden in den internationalen Organisationen verschiedene Massnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts bei den Kapitaltransfers erörtert. Für Rojas-Suarez sind die beiden Prioritäten zum einen der Kampf gegen illegale Finanzströme und zum anderen eine Verbesserung der Transparenz von Darlehen zwischen Ländern.
«Die Verträge sollten veröffentlicht werden, wir sollten die Bedingungen kennen, damit wir beurteilen können, ob sie wirklich den [Entwicklungs-]Ländern zugutekommen und sie nicht einer Überschuldung aussetzen», sagt sie.
Neben der Aufstockung der Entwicklungshilfe unterstützt die UNCTAD einige Formen des Protektionismus, um den Schwellenländern die Entwicklung ihrer Industrie zu ermöglichen, und befürwortet mehr Kapitalkontrollen.
Seit langem fordert auch die UNCTAD die Zuteilung von Vorzugsrechten und konnte sich Ende August damit schliesslich durchsetzen: Der Internationale Währungsfonds (IWF) kündigte eine Rekordsumme von 650 Milliarden Dollar für die Weltwirtschaft an, von denen 275 Milliarden an die Entwicklungsländer gehen sollen.
Solche Massnahmen, die bis vor kurzem in Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) tabu waren, fänden allmählich ein Echo, sagt Bouhia. Ist dies ein Zeichen dafür, dass die Pandemie das Gleichgewicht verschoben hat?
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Die Schweiz und der Kolonialismus
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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