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Parlamentswahl in Frankreich: Rufe nach Polit-Reform

Jean-Luc Mélenchon
In der von Jean-Luc Mélenchon angestrebten Sechsten Republik würden die Verfahren, mit denen die Exekutive das Parlament umgehen kann, der berüchtigte Artikel 49-3, abgeschafft werden. Gerard Cambon / Le Pictorium

Die bevorstehende Parlamentswahl in Frankreich könnte eine Nationalversammlung hervorbringen, die wenig repräsentativ ist. Rufe nach mehr Demokratie werden laut.

«Mélenchon Premierminister!» und «Nehmen wir die Versammlung ein!» propagieren die Plakate der linkspopulistischen Partei La France insoumise für die bevorstehende Parlamentswahl am 12. und 19. Juni.

«Ich fordere die Französinnen und Franzosen auf, mich zum Premierminister zu wählen», forderte Jean-Luc Mélenchon. Eine Provokation, denn in Frankreich wird der Regierungschef nicht gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt.

Wird das Ergebnis der Parlamentswahl jenem der Präsidentschaftswahl widersprechen? Werden die Französinnen und Franzosen weniger als zwei Monate nach der Wiederwahl von Emmanuel Macron zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte nach links tendieren?

Der 71-jährige Mélenchon, der in fünf Jahren nicht mehr zur Präsidentschaftswahl antreten will, setzt all seine Kraft in den Kampf um die Legislative. Sein Wahlbündnis mit Europe Ecologie-Les Verts (EELV), der Kommunistischen Partei und der Sozialistischen Partei macht ihn zu einem starken Gegner für die Renaissance-Partei von Präsident Macron.

Minderheitsparteien ohne Chance

Der Vorsitzende von La France insoumise steht jedoch vor einer grossen Hürde: dem Mehrheits-Wahlsystem. «Ich habe keinen Zweifel daran, dass das Bündnis des Präsidenten die Wahl gewinnen wird, weil das System mit zwei Wahlgängen die Mitteparteien enorm begünstigt», sagte Gaspard Gantzer, ein ehemaliger Berater von François Hollande, gegenüber dem Radiosender France Culture.

Gantzer verspricht dem Lager Macrons über 400 der 577 Sitze. Jüngste Umfragen sagen der Renaissance und ihren Verbündeten zwar eine knappere Mehrheit voraus, aber keine prognostiziert einen Sieg für Mélenchon.

In jedem Wahlkreis gilt im zweiten Wahlgang jene Person mit den meisten Stimmen als gewählt – der zweite Platz geht leer aus. Die rechtsextreme Partei Rassemblement National von Marine Le Pen, die im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 23 Prozent und im zweiten 41,5 Prozent der Stimmen erhielt, wird sich wohl mit 15 oder 20 Abgeordneten begnügen müssen.

Eine Prise Verhältniswahl?

Das Mehrheits-Wahlrecht, der Stolz der Fünften Republik und eine Seltenheit in Europa (nur Grossbritannien hat ein ähnliches System), hat es Frankreich ermöglicht, klare Mehrheiten von links und rechts zu schaffen, was einen Kontrast zum politischen Chaos früherer Zeiten oder zur Instabilität in Italien darstellt.

Jedoch werden immer mehr Stimmen laut, die ein demokratischeres System fordern, das den Minderheitenparteien mehr Stimmen verleiht. Die meisten Präsidentschaftskandidat:innen, einschliesslich Emmanuel Macron, möchten dem Wahlverfahren zumindest etwas mehr Proporz einhauchen.

«Das Risiko der Verhältniswahl, bei dem die Bürger:innen auf Listen Kandidierende auswählen, die von Parteien vorgeschlagen werden, besteht darin, dass die territoriale Verankerung verloren geht», sagt die Franko-Schweizerin Claudine Schmid, die von 2012 bis 2017 die in der Schweiz lebenden Französinnen und Franzosen im Parlament in Paris vertrat (Les Républicains). «Der Abgeordnete hätte dann keine Beständigkeit mehr im Parlament und wäre des Kontakts mit dem Terrain beraubt.»

Auch der Schweizer Politologe François Chérix ist skeptisch: «Sind die Franzosen bereit für dieses schweizerische System, das von Geduld, Langsamkeit, Kompromissen und manchmal Ineffizienz geprägt ist? Ich bin mir nicht sicher», so der Autor des kürzlich erschienen Buchs über Frankreich, «Le Crépuscule du récit révolutionnaire». «Frankreich wird nicht gleichzeitig die Effizienz der Fünften Republik und die politische Repräsentativität haben, die das Verhältnis-Wahlsystem mit sich bringt.»

«Ist Frankreich bereit für dieses System der Geduld, der Langsamkeit, der Kompromisse und manchmal der Ineffizienz, das man in der Schweiz gut kennt? Ich bin mir nicht sicher.»

François Chérix, Politologe

Die populistische Blase

Starkes Argument der Befürwortenden des Verhältnis-Wahlrechts: Protestparteien, sowohl links als auch rechts, gedeihen in ihrer populistischen Blase, ohne echte Macht oder Rechenschaftspflicht gegenüber ihren Wähler:innen.

Bei der letzten Präsidentschaftswahl erhielten Kandidierende, die das politische System anprangerten, die Mehrheit der Stimmen. Le Pen und ihr Rassemblement National, die ausser einigen Bürgermeisterämtern nirgendwo an der Macht sind, bauten ihren Einfluss weiter aus.

«Es stimmt, dass das Verhältnis-Wahlrecht zu einer Form der Mitverantwortung zwingt», bemerkt Chérix. «Aber in der Schweiz hindert die Präsenz der Schweizerischen Volkspartei im Bundesrat die Partei nicht daran, ihre Vormacht in der Legislative mit über einem Viertel der Stimmen zu behalten.»

Seit dem Übergang von der Sieben- zur Fünfjahresperiode unter Präsident Jacques Chirac gibt die Präsidentschaftswahl den Ton für die Parlamentswahl an, die einige Wochen später über die Bühne geht. «Vielleicht sollte man diesen Zeitplan umkehren, um dem Parlament mehr Gewicht zu verleihen, so wie das in der Schweiz oder in Deutschland der Fall ist», sagt Schmid.

Ein Parlament «zum Schein»

2017 wurde Annie Chapelier im Zug der Wahl von Emmanuel Macron zur Abgeordneten gewählt. Fünf Jahre später kehrt die Anästhesie-Krankenschwester zu ihrem ursprünglichen Beruf zurück. «Ich glaube an die Erneuerung der politischen Klasse», sagt Chapelier, die gerade ein Buch mit dem bezeichnenden Titel «Un Parlement en toc» (ein Parlament zum Schein) herausgegeben hat.

«Das Bild, das die Nationalversammlung auf eine Art Registrierungskammer für die Regierungspolitik reduziert, ist leider zutreffend. Das Ergebnis der Abstimmungen ist bereits vor der Auszählung bekannt. Es ist sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, von der Regierung vorgelegte Gesetzesentwürfe zu ändern», bedauert Chapelier.

Die Regierung erwarte von den Abgeordneten der Mehrheit nur, dass sie die Gesetze schnell verabschieden, sagt Chapelier, die darin sogar eine Form von «Verachtung» für die Abgeordneten sieht. Abgeordnete, die es wagen, gegen ihr eigenes Lager zu stimmen, bleibe oft nichts anderes übrig, als sich mit einem lapidaren Spruch davonzustehlen: «Wir haben den falschen Knopf erwischt.»

Auf dem Weg zur Sechsten Republik?

Chapelier ist der Ansicht, dass das Parlament nur durch eine Verfassungsreform wieder mehr Macht erhalten könnte. Denkt sie an die von Jean-Luc Mélenchon propagierte Sechste Republik? In seinem Programm schlägt der Anführer der «Unbeugsamen» die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung vor, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll.

In seiner Sechsten Republik würden die Verfahren, mit denen die Exekutive das Parlament umgehen kann, wie der berühmte Artikel 49/3, abgeschafft werden. Und der Rückgriff auf das von der Schweiz inspirierte Referendum der Volksinitiative würde es ermöglichen, Gesetze aufzuheben, die Verfassung zu ändern oder sogar gewählte Abgeordnete abzuwählen.

«Man kann für eine Sechste Republik sein, ohne gleichzeitig für Mélenchon zu sein», sagt Chapelier. «Ich denke, wir brauchen einen demokratischen Frühlingsputz in diesem Land.» François Chérix fordert ein stärkeres Vorschlagsrecht für das Parlament und dass es die Exekutive besser kontrollieren kann.

(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)

(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)

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