Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Das Milizsystem, eine Schweizer Spezialität in Schwierigkeiten

Geniesoldaten beuen eine Behelfsbrücke
Das Milizsystem gilt für die Armee, aber nicht nur. Es wird auch in vielen anderen Bereichen angewendet. Keystone

Einer der Eckpfeiler der partizipativen Demokratie der Schweiz ist das so genannte Milizsystem. Doch was steckt hinter diesem Begriff, der im Ausland oft nur mit militärischen Tätigkeiten gleichgesetzt wird?

Das Prinzip

«Der Begriff Milizsystem bezeichnet ein im öffentlichen Leben der Schweiz verbreitetes Organisationsprinzip, das auf der republikanischen Vorstellung beruht, wonach ein jeder dazu befähigter Bürger neben- oder ehrenamtlich öffentliche Ämter und Aufgaben zu übernehmen hat», heisst es im Historischen Lexikon der SchweizExterner Link (HLS) dazu.

Stark vereinfacht lässt sich sagen, dass der Begriff Miliz im politischen und institutionellen Kontext der Schweiz als das Gegenteil von Professionalität verstanden wird. Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die den Staat ausmachen – einen partizipativen demokratischen Staat, in dem diese nicht nur das aktive und passive Wahlrecht haben, sondern auch die Pflicht, Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu übernehmen.

Woher kommt es?

Der Begriff Miliz stammt ganz klar aus dem militärischen Vokabular und kommt aus dem lateinischen milizia. In der Schweiz kam das Milizsystem denn auch erstmals im militärischen Kontext zur Anwendung.

Statt auf ständige monarchistische Truppen zu setzen, wurde damit das republikanische Prinzip der Bewaffnung des Volks aufgenommen. Bereits im späten Mittelalter hatten einige Kantone der Eidgenossenschaft auf diese Art der Rekrutierung umgestellt.

Sechs Jahre, 6600 Beiträge: Das ist die SWI swissinfo.ch-Schatzkammer, die wir seit 66 Monaten mit Inhalten zu unserem SWI-Schwerpunkt Demokratie füllen. In diesem Sommer präsentieren wir Ihnen daraus zehn Evergreens. Denn Demokratie zählt gemeinsam mit der Klimafrage und der Rentensicherung zu den ganz grossen globalen Gesprächsthemen unserer Zeit.

Das Prinzip der Bürgerwehr wurde schliesslich in der Schweizer Verfassung von 1798 verankert. Mit der Entstehung des modernen Bundesstaats wurden das Prinzip der WehrpflichtExterner Link und das Verbot der ständigen Truppen in den Verfassungen von 1848 und 1874 verankert.

Im Rahmen der Totalrevision von 1999 wurde in der Bundesverfassung ausdrücklich festgehaltenExterner Link: «Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert.» (Art. 58)

Mehr
Soldato che corre

Mehr

Kann man den Militärdienst in der Schweiz verweigern?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Erst seit 1996 besteht in der Schweiz die Möglichkeit, einen Zivildienst zu leisten; zuvor landeten Dienstverweigerer zu Tausenden im Gefängnis.

Mehr Kann man den Militärdienst in der Schweiz verweigern?

Ausdehnung auf die Politik

Die Ausdehnung des Milizsystems auf den politischen Bereich geht auf das Ancien Régime zurück: Seit den 1830er-Jahren wandten einige Kantone dieses auf Gemeinden und die lokale Verwaltung an.

Die Bürger wurden aufgerufen, in allen öffentlichen Angelegenheiten Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Ihnen wurden für bestimmte Zeiträume öffentliche Ämter und Aufgaben – auch wichtige – übertragen, die sie ehrenamtlich oder gegen ein sehr geringes Entgelt ausübten.

Eidgenössische Abstimmungen: Abstimmungsthemen besser verstehen, informiert abstimmen und einfach auf die Ergebnisse und Analysen der Abstimmung zugreifen. Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Während der DemokratisierungExterner Link der Ernennung von kantonalen Behörden im 19. Jahrhundert hat sich das Milizprinzip in der politischen und institutionellen Architektur der Schweiz auf allen Ebenen – also Gemeinden, Kantone und Bund – durchgesetzt.

Mehr

Mehr

Die Wahlen 2015 aus zehn Blickwinkeln

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Sie fuhren an Parteiveranstaltungen auf dem Land, folgten Kandidatinnen an öffentliche Diskussionen und persönliche Werbeaktionen in der Stadt. Sie waren bei Pressekonferenzen von Regierungsmitgliedern dabei und blickten Parlamentariern bei der Arbeit über die Schultern. Akkreditierte Fotografen haben übrigens das Privileg, dass sie freien Zugang zu den beiden Ratssälen haben – das ist einzigartig für ein…

Mehr Die Wahlen 2015 aus zehn Blickwinkeln

Übernahme durch die Zivilgesellschaft

Gleichzeitig erfasste das Milizsystem auch die Schweizer Zivilgesellschaft. Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert vervielfachten sich Verbände und Organisationen, die öffentliche Dienstleistungen erbringen und sich auf der Grundlage von Freiwilligenarbeit sozial engagieren.

In diesem Bereich ist das Milizsystem oft eng mit dem christlichen Prinzip der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, aber auch mit den Prinzipien sozialistischer Bewegungen wie gegenseitige Hilfe und Emanzipation verbunden.

Mehr
Ambulance loading patinet on stretcher

Mehr

Erste Hilfe ist auch eine Leidenschaft

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Freiwillig im Dienst der Ersten Hilfe für Menschen in Not: Unterwegs mit Rettern des Croce Verde in Lugano in der Südschweiz.

Mehr Erste Hilfe ist auch eine Leidenschaft

Der Niedergang

Im Lauf des 20. Jahrhunderts jedoch nahm die Bereitschaft der Bürgerschaft, neben einer beruflichen Tätigkeit auch politische Ämter zu übernehmen und Dienstleistungen für die Gemeinschaft zu erbringen, stetig ab. Dieser Prozess beschleunigte sich mit der Individualisierung der Gesellschaft, der starken Mobilität der Bevölkerung und einer zunehmend anspruchsvollen Arbeitswelt seit Beginn des 21. Jahrhunderts.

Auch wenn das Milizprinzip bei gewählten politischen Mandaten immer noch in der kollektiven Mentalität verankert ist, verliert es immer mehr an Attraktivität. So bekunden immer mehr kleine und mittlere Gemeinden zunehmend Schwierigkeiten, Bürgerinnen und Bürger zu finden, die bereit sind, kommunale Ämter zu übernehmen und/oder Bürgermeister und Kommissionsmitglied zu werden.

In allen Kantons- und Gemeinderäten ist das Milizprinzip nach wie vor die Regel. Doch die Arbeitsbelastung nimmt weiter zu, und in nicht allzu ferner Zukunft wird wohl eine Professionalisierung Einzug halten.

Im Eidgenössischen Parlament bezeichnen sich die Abgeordneten zwar immer noch als Milizpolitiker, in Wirklichkeit aber sind sie Fachleute oder Halbprofis. Sie widmen den grössten Teil ihrer Arbeitszeit der parlamentarischen Tätigkeit, für die sie einen angemessenen LohnExterner Link erhalten.

Mit dem Jahr der Milizarbeit will der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) die Öffentlichkeit auf die Krise des Schweizerischen Milizsystems aufmerksam machen.Insbesondere auf Ebene der Lokaldemokratie nimmt die Krise teils dramatische Ausmasse an. Die wichtigsten Faktoren: sinkende politische Beteiligung der Bürger, Mangel an Freiwilligen für politische Ämter, abnehmender politischer Gestaltungsspielraum, Gemeindefusionen, Verschwinden lokaler und regionaler Medien.Um eine vertiefte interdisziplinäre Diskussion über mögliche Auswege zu fördern, organisiert der SGV im Jahr 2019schweizweite Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit Partnern aus verschiedenen Sektoren.Diskussionen zwischen Experten und der Öffentlichkeit sollten Impulse für Reformen geben, die nach Ansicht des SGV dringend notwendig sind, um das Milizsystem zu stärken und zu entwickeln.swissinfo.ch ist Medienpartner des «Jahres der Milizarbeit» und veröffentlicht regelmässig Beiträge zum Thema.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft