Immer mehr Menschen können über öffentliche Gelder bestimmen
Das letzte Wort bei öffentlichen Ausgaben. Das verspricht der demokratische Prozess des "Bürger:innenbudgets". Die Schweiz und Argentinien verfolgen zwei unterschiedliche Ansätze, um die Menschen in die Verwendung öffentlicher Gelder einzubeziehen. Beide aber zeigen am Ende eine Wirkung.
Das Instrument hat diverse Namen: Bürger:innenbudget, Beteiligungs- oder partizipativer HaushaltExterner Link. Alle stehen für demokratische Prozesse, bei denen alle mitbestimmen können, wie öffentliche Gelder verwendet werden.
Dieses Instrument ist weltweit zu einem immer wichtigeren Merkmal der modernen Demokratie geworden. In Madrid und Paris hatten die Menschen bereits mehrfach die Möglichkeit, über Millionenbeträge zu entscheiden.
Doch bis heute ist die Schweiz laut der italienischen Forschungsgruppe Politis das einzige Land der Welt, in dem die partizipative Methode als verbindliche Regel angewendet wird.
Dies ist zum Beispiel in Aarau der Fall. Die Hauptstadt des Kantons Aargau führt obligatorische Volksabstimmungen über Finanzfragen durch, sobald die Ausgaben sechs Millionen Franken übersteigen.
Die Stimmberechtigten können auch über jeden anderen Haushaltsposten im Rahmen eines fakultativen Referendums abstimmen. Dies, sofern sich zehn Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner innerhalb einer bestimmten Frist für die Durchführung einer Abstimmung ausgesprochen haben. Dies ist in ähnlicher Form auch in anderen Gemeinden der Fall.
Mehr
Das letzte Wort haben die Bürger – auch beim Geld
Von oben nach unten und von unten nach oben
Andernorts wird die Praxis jedoch nach wie vor von oben diktiert. Der Prozess hängt damit stark vom guten Willen der lokalen Entscheidungstragenden ab. Auch knappe finanzielle Mittel und Schwierigkeiten bei der Mitsprache einer grossen Personengruppe haben die Effizienz von Beteiligungshaushalten manchmal untergraben.
Diese Probleme wollte die Nationale Universität von Rosario in Argentinien angehen. Sie hat eine innovative Initiative gestartetExterner Link, um der akademischen Gemeinschaft ein Mitspracherecht bei der Verwendung der Mittel auf dem Campus zu geben.
So wird ermöglicht, dass Forderungen und Ideen von Studierenden, Lehrkräften und Mitarbeitenden zu gemeinsamen Projekten der Universität werden, wenn sie in einer Abstimmung angenommen werden.
Ein solcher Beteiligungshaushalt ist ein demokratischer Prozess, der den Menschen echte Macht über echtes Geld gibt. Seit dem Start der Initiative hat die Universität unter anderem beschlossen, einen neuen Sitzungsraum in der Wirtschaftsschule zu schaffen, Material für den 3D-Druck zu kaufen und die Küche in der Landwirtschaftsschule zu modernisieren.
«Ich habe gelernt, wie man gemeinsam Ideen entwickelt», sagt Carla, eine der Teilnehmerinnen aus der Universität. Die «Schaffung einer Gemeinschaft» war eines der Hauptziele der Initiative, die für die zwölf Fakultäten der Universität und die drei angeschlossenen Schulen – Agrotechnik, Wirtschaft und Polytechnik – durchgeführt wurde.
Sie zielte darauf ab, besonders für Jugendliche die staatsbürgerliche Erziehung zu fördern, die Zusammenarbeit zu unterstützen und die Entscheidfindung zu demokratisieren.
«Der partizipative Haushalt wurde zu einem Forum, in dem die Bedürfnisse und Wünsche der Universitätsangehörigen während der Pandemie zum Ausdruck gebracht werden konnten. Und auch zu einem Treffpunkt, an dem man sich austauschen, Vorschläge machen, beraten und entscheiden konnte», sagt Cintia Pinillos.
Nach Ansicht der Professorin für vergleichende Politikwissenschaft an der Universität ist es kein Zufall, dass die meisten der siegreichen Vorschläge in diesem vergangenen Zyklus den Zugang zu neuen Technologien und die Schaffung oder Renovierung von Begegnungs- und Freizeiträumen betreffen.
Das Konzept der partizipativen Entscheidfindung ist in Rosario nicht neu. Mit rund 1,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist die Stadt nach Buenos Aires und Córdoba die drittgrösste in Argentinien.
Der Hafen von Rosario am Paraná-Fluss exportiert den grössten Teil der argentinischen Getreideproduktion. Seine wirtschaftliche Bedeutung ist auch für den Industriesektor von zentraler Bedeutung.
Seit den neunziger Jahren ist die Stadt ein herausragendes Beispiel für die Förderung der partizipativen Demokratie in Argentinien. Der jüngste Anstieg des Drogenhandels und der städtischen Gewalt machte jedoch neue Formen des Engagements erforderlich. In diesem Zusammenhang hat die Universität von Rosario Forschende mit der Durchführung von partizipativen Haushalten beauftragt.
Der partizipative Haushalt der argentinischen Universität von Rosario (NUR) besteht aus drei Phasen. Zunächst eröffnen die Foren der Universität und der Schulen virtuelle Plattformen, um Vorschläge zu erhalten, Kommentare auszutauschen und die Ideen anderer anzureichen (im Jahr 2021 nahmen 1645 Personen teil und schlugen 226 Ideen vor).
In einem zweiten Schritt sind eine Universitätskommission und der Schulrat an der Bewertung der Ideen und ihrer Weiterentwicklung beteiligt. Im vergangenen Jahr erarbeiteten 198 Teilnehmende 94 Ideen, aus denen 18 Projekte für die Universität und 25 für die Schulen hervorgingen, die per Abstimmung verabschiedet wurden.
In der dritten Phase wird über die Projekte abgestimmt, und sie werden weiterentwickelt. Im Jahr 2021 stimmten 4169 Personen über die Projekte ab.
Die Initiative selbst geht auf eine lange Tradition der partizipativen Demokratie in Südamerika zurück. In der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre wurde während des landesweiten Übergangs von einem autoritären Regime zu einer Demokratie in den späten 1980er-Jahren ein Prozess eingeleitet, um die Menschen an lokalen Finanzentscheidungen zu beteiligen.
Es begann als ein Mechanismus, bei dem die Bürgerinnen und Bürger einen kleinen Prozentsatz des städtischen Haushalts vorschlagen und/oder diskutieren und darüber entscheiden konnten.
Obwohl es zunächst von linken Funktionärinnen und Funktionären wie der Arbeiterpartei in Brasilien, der Vereinigten Linken in Peru oder der Breiten Front in Uruguay gefördert wurde, verbreitete es sich bald auch in Städten, die von rechten Stadtoberhäuptern regiert wurden.
Die Weltbank und andere internationale Institutionen betrachten Beteiligungshaushalte heute als «gute Praxis». Sie stellen fest, dass sie ein wirksames Instrument zur Bekämpfung von Korruption und zur Ermittlung von Bürgerforderungen und möglichen Lösungen sein können. Bis heute enthält der Global Atlas of Participatory BudgetingExterner Link mehr als 11’000 Fallstudien in 71 Ländern.
Mehr
Die meisten dokumentierten Prozesse – vier von fünf im Atlas – finden in Ländern statt, die als «unvollkommene Demokratien» bezeichnet werden können. Darüber hinaus wird das Verfahren auch in Städten von Ländern eingesetzt, die derzeit als «Autokratien» gelten, wie Budapest (Ungarn) oder Moskau (Russland).
Dem Global Atlas zufolge sehen «vollständige Demokratien» das Verfahren möglicherweise nicht als wichtiges demokratisches Instrument an, da die Lebensbedingungen besser seien und die Menschen in diesen Ländern ein hohes Mass an Vertrauen in ihre Institutionen hätten.
Es mag überraschen, dass der Global Atlas die Schweiz nicht in die Liste der Länder aufgenommen hat, in denen Beteiligungshaushalte durchgeführt werden, obwohl sie als vollwertige Demokratie gilt.
In Wirklichkeit hat eine andere, verbindlichere Form des Beteiligungshaushalts eine lange Tradition in Ländern mit starken direktdemokratischen Instrumenten auf lokaler und regionaler Ebene wie den Vereinigten Staaten und der Schweiz.
Hier können die Bürgerinnen und Bürger einen Entscheid der Regierung zur Abstimmung bringen, indem sie eine bestimmte Anzahl von Unterschriften sammeln (Referendum). In vielen Fällen sind solche Volksabstimmungen auch obligatorisch, wenn die Ausgaben der Stadt einen bestimmten Betrag überschreiten. Mit anderen Worten: Sie haben das letzte Wort in Finanzfragen.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch