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Personenfreizügigkeit auf dem Prüfstand

Massen beim Shoppen an der Zürcher Bahnhofstrasse. Keystone

Die Schweiz soll die Einwanderung wieder mittels Kontingenten beschränken und die Personenfreizügigkeit mit der EU neu verhandeln. Das verlangt die Initiative "Gegen Masseneinwanderung" der SVP. Am 9. Februar stimmt das Volk darüber ab.

Eine Ablehnung der Initiative käme einer «Kapitulation vor der masslosen Einwanderung» gleich, sagt der Präsident der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), Toni Brunner, gegenüber swissinfo.ch.

Die Initiative sei ein Angriff auf die «Grundwerte, die dieses Land zum reichsten und erfolgreichsten Land in Europa gemacht haben», sagt hingegen Pirmin Bischof, Ständerat der Christlich-demokratischen Partei (CVP).

Seit der schrittweisen Einführung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) sind jährlich bis zu 80‘000 ausländische Arbeitskräfte in die Schweiz gekommen. 75% davon stammen aus EU-Ländern. Die Regierung und die Mehrheit des Parlaments sind sich einig: Die Personenfreizügigkeit hat zur Prosperität der Schweiz beigetragen. Die Industrie sowie staatliche und private Dienstleistungs-Betriebe seien auf Arbeitskräfte angewiesen. Die Exportindustrie profitiere vom relativ unbürokratischen Zugang zum EU-Binnenmarkt.

SVP: Zweifel am Wachstum

Die Schweiz steht wirtschaftlich gut da. Die Arbeitslosigkeit pendelt um die 3%-Marke und erreicht damit einen Wert, von dem andere europäische Länder nicht einmal zu träumen wagen. Mit dem Anwachsen der Wohnbevölkerung ist in den vergangenen Jahren auch das Bruttoinlandprodukt (BIP) permanent gestiegen.

«Das Bruttoinlandprodukt ist zwar gestiegen, aber das ist auf den Mehrkonsum, auf mehr Nachfrage beim Bau und damit auch mehr benötigte Infrastruktur zurückzuführen. Das Pro-Kopf-Einkommen hingegen hat sich nicht anders entwickelt als vor der Personenfreizügigkeit. Die Leute sind also nicht reicher geworden. Die Arbeitslosen-Raten sind nie mehr unter jene von 2001 zurück gegangen», relativiert Brunner im Gespräch mit swissinfo.ch: «Ob das ein gesundes Wachstum ist, wage ich zu bezweifeln.»

Das Abkommen über den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU ist 2002 in Kraft getreten und bildet einen Kernpunkt innerhalb der Bilateralen Abkommen I.

Mit dem Abkommen erhalten Staatsangehörige der Schweiz und der EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich das Recht, Arbeitsplatz und Aufenthaltsort innerhalb der Staatsgebiete der Vertragsparteien frei zu wählen.

Das Schweizer Stimmvolk hat bisher dreimal über die Personenfreizügigkeit abgestimmt: Im Mai 2000 hat es die Bilateralen I und damit auch das Personenfreizügigkeitsabkommen mit grosser Mehrheit gutgeheissen.

Im Jahr 2005 sagten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Ja zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die zehn Staaten, die 2004 der EU beigetreten waren.

2009 wurde auch die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien vom Volk gutgeheissen.

Voraussichtlich im Herbst 2014 wird sich das Stimmvolk zur geplanten  Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf das EU-Neumitglied Kroatien äussern.

Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind in 20 bilateralen Abkommen und in rund 100 weiteren Verträgen geregelt.

Unzufriedenheit erkannt

Die steigende Wirtschaftsleistung und die wachsenden Bevölkerungszahlen haben zu höheren Immobilienpreisen, überfüllten Zügen und Hauptverkehrsachsen und zu Lohndumping in den Tieflohn-Branchen geführt. Das hat bei einem Teil der betroffenen Bevölkerung Unzufriedenheit ausgelöst.

Vor diesem Hintergrund hat die SVP vor bald vier Jahren ihre Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» lanciert. Die Initiative verlangt, dass die Zuwanderung wieder mit Kontingenten gesteuert und das Personenfreizügigkeits-Abkommen mit der EU neu verhandelt wird. Schweizer müssten zudem bei Stellenbesetzungen bevorzugt werden.

Zurück in die 1960er-Jahre

«Wenn diese Initiative angenommen wird, dann dokumentiert die Schweiz, dass wir aus dem bilateralen Vertragswerk mit der EU aussteigen oder zumindest sagen wollen, es sei uns nicht so wichtig. Wir würden zurück in die 1960er-Jahre gehen. Damals hatten wir auch ein Kontingente-System», sagt Pirmin Bischof: «Unternehmen müssten dann wieder für jede Einzel-Bewilligung einen Antrag stellen und nachweisen, dass sie erfolglos versucht haben, die offene Stelle mit einem Schweizer zu besetzen. Das wäre eine Riesenbürokratie.»

«Niemand kann beweisen, wo die Schweiz heute stände ohne Personenfreizügigkeit. Schweizer Unternehmen haben ihre Arbeitskräfte auch vor deren Einführung immer bekommen. Die Frage ist: Wollen wir in Zukunft die Einwanderung wieder selber steuern und begrenzen können»?, sagt Toni Brunner.

Dass die Zuwanderung negative Auswirkungen habe, bestreitet auch Pirmin Bischof nicht. «Wir haben flankierende Massnahmen gegen das Lohndumping gesetzlich verankert. Aber die Massnahmen werden noch nicht genug umgesetzt. Das muss sich ändern.» Grundsätzlich sei die Initiative kein Mittel gegen Phänomene wie volle Züge oder die hohe Bautätigkeit.

In der EU eine Grundfreiheit

Darüber, welche Konsequenzen ein Volks-Ja zur Initiative für die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU genau hätte, sind sich Rechtsexperten und Politiker uneinig. Laut dem Initiativtext müsste die Schweiz das Personenfreizügigkeits-Abkommen innerhalb von drei Jahren mit der EU neu verhandeln oder aufkünden. Das wiederum könnte das ganze erste Paket der Bilateralen-Verträge mit der EU gefährden.

Im Verständnis der EU ist die Personenfreizügigkeit eine Grundfreiheit, die untrennbar mit dem freien Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Kapital verbunden ist. «Die Mitgliedstaaten würden niemals die Loslösung der Personenfreizügigkeit von den übrigen Grundfreiheiten akzeptieren. Ich hoffe, dass die Schweizer dies verstehen», sagte kürzlich der Präsident der EU-Kommission José Manuel Barroso in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung.

Ein Witz

«Nach Brüssel gehen und neu verhandeln wollen, das ist schlichtweg ein Witz. Das wissen alle, das weiss auch die SVP. Die Personenfreizügigkeit ist das Herzstück des gemeinsamen Marktes», sagt Ständerat Bischof . «Wir können sagen, wir wollen das nicht, aber das würde heissen, wir schotten das Land ab und gehen wieder zurück zu den Kontingenten.»

«Die EU hat mit der Schweiz einen verlässlichen und auch wirtschaftlich wichtigen Handelspartner, den man nicht einfach brüskieren kann», entgegnet Nationalrat Brunner und verweist darauf, dass die Schweiz im Jahr 2012 für 20 Milliarden mehr Güter aus der EU importiert habe als umgekehrt.

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