«Personenfreizügigkeit verstärkt Wohnungsnot»
Die Diskussion über die negativen Auswirkungen des freien Personenverkehrs hat sich vom Arbeitsmarkt auf den Wohnungsmarkt verschoben. Der Ärger ist besonders in der Westschweiz ausgeprägt, einer Region, die sich sonst europafreundlich gibt.
Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) benutzt sie als eines der Hautargumente für ihre Masseneinwanderungs-Initiative, die am 9,. Februar an die Urnen kommt: Die Zuwanderung von Ausländern habe vor allem in den städtischen Agglomerationen zu einem massiven Anstieg der Immobilienpreise und der Wohnungsmieten geführt.
«2013 sind 85’000 Personen in die Schweiz eingewandert. Das entspricht der Bevölkerung der Stadt Luzern. Um der Nachfrage gerecht zu werden, müssten wir jährlich zwischen 30’000 und 35’000 neue Wohnungen bauen. Der Druck ist riesig», sagt SVP-Nationalrat Guy Parmelin.
Kaufkraft verdrängt Einheimische
«Verdrängt von Immigranten mit hoher Kaufkraft, sahen sich viele Einheimische dazu gezwungen, in periphere Regionen umzuziehen, also dorthin wo sie noch bezahlbaren Wohnraum gefunden haben. Das hat zur Folge, dass nun die Züge überfüllt und die Strassen verstopft sind», sagt Parmelin.
Auch ein wachsender Teil der Linken hat genug von dieser Entwicklung. Sie verlangen einen besseren Mieterschutz und mehr Zonen, die für bezahlbare Wohnungen vorgesehen sind. «Die Personenfreizügigkeit hat die Wohnungskrise noch verschärft. Die Wirtschaftspole Zürich und Lausanne-Genf sind besonders betroffen», sagt der sozialdemokratische Nationalrat und Mieterverbandssekretär Carlo Sommaruga.
Gemessen an der bewohnbaren Fläche weise die Schweiz heute die höchste demographische Dichte Europas auf, begründet die SVP ihre Initiative «gegen die Masseneinwanderung».
Diese Sicht einer überbevölkerten Schweiz weist Philippe Wanner, Professor für Demographie an der Uni Genf, entschieden zurück. Die Schweiz gehöre bei weitem nicht zu den Ländern Europas mit den höchsten Bevölkerungsdichten.
«Es ist weiter trügerisch, nur die bewohnbaren Flächen zu vergleichen, weil die Gesetzgebungen von einem Land zum anderen stark varieren. So geht die Schweiz bei der Definierung von Bauzonen sehr restriktiv um», hält Wanner fest.
Die Debatte um die Zuwanderung wird auch unabhängig des Ausgangs am 9. Februar weitergehen. Schon im November stimmen die Bürger über die Initiative «Stopp der Überbevölkerung» des Komitees Ecologie et Population («Ecopop-Initiative») ab.
Sie will die Zunahme der Zuwanderung auf 0,2% pro Jahr beschränken und so Umwelt und natürliche Ressourcen zu schützen.
Preis-Anstieg um einen Drittel
Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann hatte im letzten Jahr eine Kontroverse ausgelöst, als er sagte die Wohnungsknappheit sei vor allem auf den wachsenden Anspruch an Wohnraum der Schweizer zurückzuführen. Inzwischen räumt auch die Regierung ein, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen der Knappheit und der Personenfreizügigkeit.
Das Bundesamt für Wohnungswesen (BWO), im Departement von Johann Schneider-Ammann angesiedelt, hat ausgerechnet, dass in der Schweiz die Preise für Eigentumswohnungen zwischen 2005 und 2012 um 32% gestiegen sind.
Die Hausse, von der die Westschweiz mit einem Plus von knapp 52% besonders betroffen ist, führt die Behörde hauptsächlich auf die Migration zurück. In der Romandie scheine die Einwanderung einer der wichtigen Gründe für diese Entwicklung, heisst es in einem BWO-Bericht. Die Zahl der ausländischen Haushalte habe in dieser Zeit um 24% zugenommen, diejenige der Schweizer Haushalte dagegen nur um 2,4%.
Pendlerverkehr leidet
Selbst wenn sich der Wahnsinn in den letzten Monaten etwas beruhigt hat, bleibe die Lage auf dem Wohnungsmarkt gespannt, sagt Carlo Sommaruga. «In Genf steigen die Mieten zum Zügeltermin im Schnitt um 20%. Spektakuläre Fälle wie jener, als die Miete für eine Vierzimmerwohnung von 1500 Franken auf 5000 Franken pro Monat stieg, sind zum Glück die Ausnahme.» Davon seien 3000 Franken an den Arbeitgeber des ausländischen Mitarbeiters, ein internationales Unternehmen, gegangen.
Am 15. Januar, also nur wenige Wochen vor der Abstimmung hat der Bundesrat angekündet, dass er ein altes Anliegen der Mieterverbände umsetzen wolle: So sollen künftig alle Schweizer Kantone bei einem Mieterwechsel ein Formular einführen, auf dem der neue Mieter den bisherigen Mietzins einsehen kann. Damit will die Regierung die Preisspirale eindämmen.
Die Folgen der Knappheit wirkt sich direkt auf die Bevölkerung aus. Laut einer Umfrage der Waadtländer Immobilienkammer sind 88% der Bevölkerung im Kanton über die Wohnungsnot sehr besorgt. Dahinter folgen die Sorgen über die Auswirkungen des demographischen Wandels (75%) und des freien Personenverkehrs mit der EU (59%).
Schweiz ist gesegnet
Tragen diese Sorgen dazu bei, dass Bürger, die bisher die Öffnung gegenüber der EU unterstützt hatten, zur restriktiven Zuwanderungsinitiative der SVP überlaufen?
Kaum, glaubt Xavier Comtesse, Westschweizer Direktor der liberalen und wirtschaftsnahen Denkfabrik Avenir Suisse. «Gewiss kann man die Frustrationen ignorieren. Aber wenn die Schweizer in Spanien oder Italien Ferien machen, können sie sich vergewissern, dass sie in den letzten 15 Jahren gesegnet waren. Weshalb sich also selber ins Knie schiessen?»
Schlecht antizipiert
Für den Genfer Demographie-Spezialisten Philippe Wanner liegt ist die Schuld nicht bei den Einwanderern zu suchen, vielmehr seien die Behörden schlecht auf die Zuwanderung vorbereitet gewesen.
«Die Politik ist mit der Entwicklung der Infrastruktur im Rückstand, hier braucht es eine Reaktion. Denn angesichts der Überalterung der Bevölkerung wird die Einwanderung für eine funktionierende Wirtschaft und die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts in der Schweiz unverzichtbarer denn je», steht für Wanner fest.
Er räumt aber ein, dass selbst Bevölkerungsexperten den Einwanderungs-Boom nicht vorhergesehen hätten: Seit 2002 hat die Zahl der Ausländer um 700’000 zugenommen, von denen 60% aus der EU stammen. 2012 durchbrach die Zahl der Einwohner der Schweiz die 8-Millionen-Schallmauer.
Initiative bietet keine Lösung
Die SVP-Volksinitiative zur Kontingentierung der Einwanderung und Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit mit der EU bringe für die Probleme der Wohnungsknappheit und Verkehrsinfrastruktur keine sofortige Linderung, räumt Guy Parmelin ein.
Carlo Sommaruga geht im Falle eines Ja des Stimmvolks sogar von einer Verschärfung der Situation aus. «Die Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften wird nicht von administrativen Direktiven bestimmt, sondern von den Bedürfnissen der Wirtschaft», sagt er.
«Zu Zeiten der Ausländerkontingentierung in den 1970er- und 1980er-Jahren wurden Zehntausende von ausländischen Schwarzarbeitern von Vermietern ausgenützt, die wenig Skrupel zeigten.» Diese Situation würde sich im Fall der Annahme des SVP-Begehrens wiederholen, befürchtet Sommaruga.
(Übersetzt aus dem Französischen: Andreas Keiser, Renat Künzi
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch