Schweizer im Dienst von Leopold II. – Spurensuche im Kongo-Freistaat
Es ist ein wenig untersuchtes Kapitel der schweizerischen Emigrationsgeschichte. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts engagierten sich immer mehr Schweizer im Dienst des Kongo-Freistaates, dem alleinigen Eigentum von König Leopold II. von Belgien. Gustave Moynier, Mitbegründer des IKRK, wurde der erste Schweizer Generalkonsul des Kongo-Freistaates.
Wie war es möglich, dass er als Mitbegründer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz sich gleichzeitig für die gewaltige und mörderische Ausbeutung des Kongos durch Leopold II. zwischen 1885 und 1908 einsetzen konnte?
In dieser besonderen Kolonie, die dem König von Belgien persönlich und nicht dem Staat Belgien gehörte, kamen Millionen von Afrikanern zu Tode (der Journalist Adam Hochschild schätzt die Opferzahl in seiner Untersuchung «Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der grossen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen», erschienen 1998, auf 10 Millionen Menschen.) Er beschreibt ein Klima des Schreckens, das im Kongo herrschte und dazu diente, das Maximum aus den ausgebeuteten Einheimischen herauszupressen.
Um die Verwicklung von Gustave Moynier und das Mitwirken zahlreicher Schweizer in diesem kolonialen Unternehmen zu verstehen, muss man sich in diese Epoche zurückversetzen.
Die Schweizer Beamten im Kongo-Freistaat
Nach Aussage des Historikers Patrick Minder war die Schweizer Gemeinschaft im Kongo die viertwichtigste unter den Europäern vor Ort. In den Verzeichnissen waren rund 200 Schweizer in den Diensten von König Leopold II. aufgeführt.
«Es waren nicht Auswanderer, sondern Vertragspartner, die eigentlich die meiste Zeit den Wunsch hatten, nach Hause zu gehen», erklärt der Historiker und Autor einer Abhandlung zu diesem Thema mit dem Titel «D’Helvétie en Congolie». Diese Auswanderer konnten auf gute Löhne hoffen, je nach Stelle. «Die Sterbensrate unter den Angestellten war überdurchschnittlich, ungefähr 25% starben vor Ort, zum Beispiel an Malaria.»
Patrick Minder hebt vor allem das Schicksal eines dieser Schweizer im Kongo hervor. Der Neuenburger Daniel Bersot wurde 1898 für drei Jahre angestellt und kam, angewidert und krank, von seinem Aufenthalt zurück.1909 erschien von ihm das Buch «Sous la chicote», worin er über seinen Aufenthalt berichtete und das Wirken von Leopold II. anprangerte.
«In der Schweiz gingen die meisten Kritiken gegenüber dem König dahin, die Exzesse seines Wirkens anzuprangern, während Daniel Bersot der einzige war, der das Prinzip der Kolonialherrschaft an sich in Frage stellte. Ein Kampf, den er auch im ‹Express de Genève› und im ‹Le Signal de Genève› weiterführte, so Patrick Minder.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Zentralafrika eine von den Europäern stark verkannte und die letzte von ihren Kolonialmächten noch nicht eroberte Region. Dies weckte auch die Neugier und Eroberungsgelüste in der Schweiz, dem jungen Staat, der damals in der industriellen Revolution steckte und wo Armut immer noch weit verbreitet war. Während zu jener Zeit die Europäer den vier Jahrhunderte lang andauernden, organisierten Sklavenhandel beendigten, führten gewisse afrikanische Königreiche, geschwächt durch ewige Rivalitäten, den Menschenhandel mit arabischen Händlern weiter.
Leopold II. präsentierte sein Projekt einer Kolonie im Kongo im Namen des «Fortschritts und der Zivilisation», der Missionierung und des Kampfes gegen die Sklaverei. Er konnte auf die entschlossene Hilfe des britischen Forschers Henry Morton Stanley zählen, der sich mit äusserst brutalen und blutigen Expeditionen im grösstenteils unbekannten Kongo einen Namen machte.
Gustave Moynier, der reiche Genfer Protestant, liess sich von den Ideen des belgischen Königs begeistern. Leopold II. gründete die Internationale Kongo-Gesellschaft mit der Absicht, sich «ein Stück des grossartigen afrikanischen Kuchens zu sichern», wie er 1872 in London einem seiner Bediensteten anvertraute.
Schlau wie ein Fuchs
Um die anderen, rivalisierenden Kolonialmächte für sich zu gewinnen, präsentierte sich Leopold II. als Philanthrop und kluger Diplomat. Er entwarf eine politische und wirtschaftliche Lösung und bot den Kolonialmächten an, eine Freihandelszone einzurichten. Das Projekt wurde in der Folge von der Berliner Kongokonferenz zur Teilung Afrikas gutgeheissen und das Gebiet 1885 zum «Kongo-Freistaat» erklärt. Als Mitbegründer des IKRK war es für den steinreichen Gustave Moynier kein Widerspruch, gleichzeitig auch die Gründung des Kongo-Freistaats gutzuheissen. Die zwei Projekte entsprachen ganz der damaligen Sicht der europäischen Eliten, sie vereinten den Kampf für den Frieden, die Verbreitung der Zivilisation mit den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft und Technik, den freien Handel und die Missionierung.
Leopold II. versuchte, Schweizer – Angehörige eines neutralen Staates – anzulocken. Sie verstärkten das Bild seines so genannt gemeinnützigen Projektes, das für europäische und amerikanische Unternehmen offen war.
Marie-Claire Berguer schreibt in ihrer Lizentiatsarbeit «Les relations entre l’Etat Indépendant du Congo et la Suisse» (Bruxelles, 1958): «Gustave Moynier beschäftigte sich als einer der ersten mit dem Wirken von Leopold II. in Afrika und nahm 1877 an den Konferenzen der A.I.A. (Association Internationale Africaine, später Internationale Vereinigung Kongos) teil. Er gründete die erste schweizerischen Kolonial-Zeitschrift ‹L’ Afrique explorée et civilisée› und wurde schliesslich zum ersten Generalkonsul des Kongo-Freistaates in der Schweiz.» 1904 trat er von diesem Amt zurück, erhielt aber den Titel eines Honorarkonsuls.
Der einstige Chefdelegierte des IKRK, Thierry Germond, betreibt seit mehreren Jahren Nachforschungen über die Schweizer im Kongo von Leopold II. «Moynier war ein einflussreicher Mann. Er wurde oft konsultiert und setzte viel Energie für die Errichtung des Kongo-Freistaats von König Leopold II. ein. Doch ich habe keinen Brief und keine Dokumente von ihm zu dieser Tätigkeit gefunden. Vielleicht hat er sie zerstört, wie das auch Leopold II. gemacht hatte», vermutet Thierry Germond.
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Ein Neuenburger als Anwerber
Es war jedoch ein anderer Schweizer im Dienste des Kongo-Freistaates, der die Schweizer aufforderte, sich im Kongo zu engagieren. Jean Boillot-Robert, belgischer Konsul in Neuenburg, publizierte zahlreiche Anzeigen und hielt viele Vorträge in der französischen Schweiz, um Schweizer anzuwerben.
Seine Bemühungen waren von Erfolg gekrönt, auch noch in den 1900er-Jahren, als die Ausbeutung des Kongos den Höhepunkt erreichte und immer mehr kritische Stimmen laut wurden.
Die Anschuldigungen fanden in der Schweizer Presse jedoch nur wenig Gehör. Als Antwort darauf publizierte Boillot-Robert 1903 «Unsere Söhne auf dem Schwarzen Kontinent – Leopold II. und der Kongo». Das Ziel war klar: «Um die Nichtigkeit dieser Anschuldigungen aufzuzeigen, so der Autor, veröffentlichen wir dieses Werk. Wir befassen uns mit der Bildung des Staates, seiner Verwaltung, seiner weiteren Entwicklung und reichern es mit sehr interessanten, unveröffentlichten Dokumenten an, die uns die Familien jener anvertraut haben, die auf dem Schwarzen Kontinent bescheiden und würdevoll dem souveränen König dienen.»
Doch der Bundesrat, der den Kongo-Freistaat sehr rasch – kurz nach den Vereinigten Staaten von Amerika und vor anderen Staaten – anerkannt hatte, schob dieser Propaganda einen Riegel vor. «Der Tod des Sohnes von Robert Comtesse, Bundespräsident (1904 und 1910), gestorben im Kongo, nachdem ihn Boillot-Robert angeworben hatte, beschleunigte dessen Amtsenthebungsverfahren», schreibt Marie-Claire Berguer.
Eine internationale Kampagne gegen Leopold II.
In der Kampagne gegen die Herrschaft von Leopold II. im Kongo deuten sich schon die internationalen Aufrufe an die Zivilgesellschaft an, wie wir sie heute kennen. Spuren finden sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts in Genf. Der Journalist René Claparède wurde aktiv und übernahm das Präsidium der «Ligue suisse pour la défense des indigènes et du Bureau international pour la défense des droits des peuples».
Die Genfer Tageszeitung «Journal de Genève», die bis dahin dieser Kampagne negativ gegenüberstand, distanzierte sich vom Wirken des Königs von Belgien im Kongo und veröffentlichte in ihren Ausgaben vom 17.Externer Link und 18.Externer Link November 1908 einen Text von René Claparède mit dem Titel «La civilisation au Congo», der folgendermassen beginnt: «Seit einigen Jahren schon, jedoch nun vermehrt, erreichen uns befremdende, aber beharrliche Gerüchte über den Kongo-Freistaat. Für die Gewinnung und das einträgliche Geschäft von Kautschuk sollen Staatsbeamte und Firmenbetreiber die Eingeborenen auf abscheulichste Weise ausbeuten, hört man sagen.»
Die ursprünglichen Ziele der Initiative, die Missionierung und Zivilisierung, verkamen zu einer rein wirtschaftlichen Ausbeutung, was zu weiteren Protesten führte.
Der unter Druck geratene Leopold II. musste 1908 seinen Staat an Belgien abtreten. Der Skandal, den die Ausbeutung durch ihn international hervorgerufen hatte, wurde jedoch durch den Ersten Weltkrieg weggefegt.
(Übertragen aus dem Französischen von Christine Fuhrer)
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