Politikversagen: Sind die Auslandschweizer:innen naiv?
Die Menschen in der Schweiz haben Zweifel, ob Politiker:innen für ihre Fehler zur Rechenschaft gezogen werden. Anders die Auslandschweizer:innen: Bei ihnen vertraut eine überwältigende Mehrheit in das Schweizer Kontrollsystem, wie eine SRG-Studie zeigt. Wo Studienleiter Urs Bieri die Gründe für den Unterschied sieht.
Wer Fehler macht, steht dafür gerade. Das wird den meisten bereits im Kindesalter eingetrichtert und zieht sich später in jedem Lebensbereich weiter: in Freundschaften, in Beziehungen, im Beruf. Bei der Politik sind sich da viele nicht so sicher. Der Eindruck, dass Politiker:innen tun und lassen können, was sie wollen, ist verbreitet.
In der Schweiz ist das Vertrauen in Institutionen im weltweiten VergleichExterner Link hoch. Trotzdem glauben gemäss der Meinungsstudie «Wie geht’s Schweiz?», die gfs.Bern im Auftrag der SRG durchgeführt hat, bloss 45% der Bevölkerung, dass Schweizer Politiker:innen für ihre Fehler geradestehen müssen – also weniger als die Hälfte.
Auffällig ist im Kontrast, wie vertrauensselig die Schweizer:innen im Ausland sind: Fast vier von fünf, nämlich 77%, sind gemäss der Meinungsstudie überzeugt, dass in der Schweiz die Kontrollen funktionieren und den verantwortlichen Politiker:innen auf die Finger geschaut wird.
Da stellt sich die Frage, ob Auslandschweizer:innen ihr Heimatland durch die rosarote Brille betrachten? Auch der Politikwissenschaftler Urs Bieri, der die Meinungsstudie durchgeführt hat, kann mit dieser Vermutung etwas anfangen. «Im Kopf bleibt vor allem das Schöne», sagt Bieri. «Das kennen wir aus der Psychologie: Schwieriges wird über die Distanz oft vergessen.» Das könne ein Faktor sein.
Hinterher ist alles besser
Ein Faktor, den vielleicht viele nachvollziehen können, die bereits einmal den Job gewechselt oder eine Beziehung beendet haben: Hinterher erscheint vieles besser. Die Launen des Chefs – nicht so schwankend wie ein Hochseedampfer im Sturm. Die Monologe des Ex – eigentlich noch ganz charmant. Ähnliches könnten auch Auslandschweizer:innen empfinden.
Zumal Auslandschweizer:innen nach dem Auswandern erst in einer neuen Gesellschaft ankommen müssen. Die Gesellschaft im neuen Wohnland erlebt man anders als eine, in deren Mitte man hineingeboren worden ist. «Wer auswandert, wird mit neuen Herausforderungen konfrontiert», sagt Bieri.
Sie müssen den Durchblick bei gewissen Formalitäten bewahren, neue Beziehungen aufbauen, in eine neue Kultur eintauchen. «Da erscheinen die Probleme, die einen in der Schweiz gestört haben, vielleicht nicht mehr so gravierend.»
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Wer auswandert, erhält ganz neue Beziehungen. Zu zwei Staaten.
Dieses Wohlwollen kann sich auch auf das politische System der Schweiz übertragen – wenn man es in einem anderen Wohnland im Kontrast erlebt. «Wenn Föderalismus, Milizsystem und Konsens näher an den eigenen Bedürfnissen sind als das System der neuen Heimat, kann dies zu mehr Wohlwollen gegenüber Politiker:innen in der Schweiz führen», so Bieri.
Er betont, dass das kein Werturteil über das System im neuen Wohnland bedeuten muss. Ein Grossteil der Auslandschweizer:innen lebt in funktionierenden Demokratien.
Unterschiedliches Verständnis von Fehlverhalten
Trotzdem können Erfahrungen im Wohnland natürlich gravierend sein. Das Verständnis, was Fehlverhalten ist, verschiebt sich, wenn man etwa während der Pandemie in Grossbritannien wohnte – und medial miterlebte, wie der damalige Premierminister Boris Johnson eine Party im Regierungssitz mitten im Lockdown feierte. Noch stärker ist der Kontrast, wenn man in einem Land lebt, in dem Korruption den Politikalltag prägt.
In der Schweiz handelte es sich beim bekanntgewordenen Fehlverhalten von Politiker:innen bisher nie um systematische Korruption, sondern um Einzelfälle. «Macht, individuelle Macht und das Ausnützen von Macht gibt es überall, wo Menschen sind», sagt Bieri.
Er verweist auf das Thema Lobbying, bei dem häufig Kritik laut wird – zuletzt etwa angesichts der Diskussion um die steigenden Krankenkassenprämien und die bezahlten Mandate, die Schweizer Politiker:innen in der Gesundheitsbranche haben.
Gerade beim Lobbying ist gemäss Bieri die Kritik aus dem Inland grösser als aus dem Ausland. Auslandschweizer:innen sind bei diesem Beispiel auch weniger direkt betroffen.
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Der Faktor Vertrauen: Was ist seine Bedeutung für die Schweiz
Auf die Frage, ob nun Auslandschweizer:innen zu gutgläubig oder Inland:schweizer:innen zu kritisch seien, gibt es für Bieri keine abschliessende Antwort. Eines könne man aber sagen: «Die Ansichten der Auslandschweizer:innen sind eine Art äusserer Spiegel auf die Schweiz.»
Dass dieses Spiegelbild so ein hohes Vertrauen zeige, bedeutet für Bieri, dass Menschen, die ein anderes politisches System kennen und erleben, sehr viel Positives im Schweizer System sehen. «Das ist natürlich ein erfreuliches Bild.»
Die Auslandschweizer:innen sind also nicht naiv. Sie haben nur einen anderen Blick.
Editiert von Benjamin von Wyl
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