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Direkte Demokratie ist kein Wundermittel gegen Ungleichheit

une personne handicapée en chaise roulante se rend aux urnes
Die Meinung der Mehrheit spiegelt nicht immer die Bedürfnisse der Minderheiten wider. Keystone

Die Demokratie legt die Macht in die Hände des Volkes. Aber wenn die Mehrheit Entscheidungen trifft, können Minderheiten zum Schweigen gebracht, und Ungleichheiten grösser werden. Das sagt Catalina Uribe Burcher vom Internationalen Institut für Demokratie und Wahlhilfe. Zwar lasse das Schweizer System der direkten Demokratie alternative Stimmen zu. Dennoch könne es nicht einfach überallhin exportiert werden.

Ungleichheiten zu bekämpfen gehört zu den Herausforderungen dieses Jahrhunderts: Überall auf der Welt vergrössern sich die Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Haben moderne Demokratien die Mittel, um damit umzugehen? Catalina Uribe Burcher vom Internationalen Institut für Demokratie und Wahlhilfe (IDEAExterner Link) hat an einer Konferenz am Global Media ForumExterner Link in der deutschen Stadt Bonn versucht, diese Frage zu beantworten. Die Lösungen seien kontextabhängig und nicht austauschbar, sagt sie.

Catalina Uribe Burcher
Catalina Uribe Burcher, ursprünglich aus Kolumbien, arbeitet am Internationalen Institut für Demokratie und Wahlhilfe (IDEA) in Stockholm, Schweden. swissinfo.ch

swissinfo.ch: Bedeutet mehr Demokratie weniger Ungleichheit?

Catalina Uribe Burcher: Die Demokratie bietet verschiedene Instrumente, um Ungleichheiten zu bekämpfen. Dabei können diese Instrumente klug eingesetzt oder missbraucht werden. Nehmen wir das Beispiel der Wahlen: Sie geben den Bürgern die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, aber es gibt auch viele Möglichkeiten, sie zu manipulieren.

swissinfo.ch: Sind autoritäre Regime in mancher Hinsicht wirksamer bei der Bekämpfung von Ungleichheit?

C.U.B.: Es gibt sowohl autoritäre Staaten als auch demokratische Staaten, denen es gelingt, Ungleichheiten abzubauen. In beiden Arten von Regimen gibt es dafür Instrumente. Das Problem lässt sich nicht auf den Vergleich von Demokratie und Autokratie reduzieren.

China wird oft als Beispiel für ein autoritäres Regime angeführt, dem es gelingt, Ungleichheiten abzubauen. Wir müssen jedoch vorsichtig bleiben, denn das chinesische Modell ist spezifisch für die Realität dieses Landes und stark mit dessen Geschichte verbunden. Andere Länder haben versucht, dieses Modell zu kopieren und sind gescheitert oder haben ganz andere Ergebnisse erzielt.

swissinfo.ch: Wie können sich Demokratien anpassen, um egalitärer zu werden?

C.U.B.: Eine der Herausforderungen der Demokratien ist es, die Bürger von ihrem Wert zu überzeugen. Das bedeutet nicht nur, ihnen eine Stimme zu geben, um zu protestieren oder die Möglichkeit, vor Gericht zu gehen. Die Bürger müssen auch qualitativ hochwertige Dienstleistungen erhalten. Indem die Staaten dafür sorgen, dass ihre Bürger Zugang zu Nahrung, Gesundheitsversorgung und Bildung haben, können sie sie von ihrem Wert überzeugen.

Auch innerhalb der politischen Parteien gibt es Potenzial. Sie können Mechanismen einführen, die es den Bürgern ermöglichen, dafür zu sorgen, dass Gewählte ihre Versprechen einhalten und sie aus dem Amt zu entfernen, wenn sie es nicht tun.

«Der Kampf gegen Ungleichheiten erfordert langfristige Ansätze. Hierfür ist die direkte Demokratie nicht unbedingt das beste Instrument.»

swissinfo.ch: Das politische System der Schweiz umfasst Instrumente der direkten Demokratie. Eignen sich diese zur Bekämpfung von Ungleichheiten?

C.U.B.: Diese Instrumente sind interessant, um Politiker sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene zur Rechenschaft zu ziehen. Sie ermöglichen es zudem, auch alternative Stimmen zu hören. Allerdings ist deren Verwendung nicht in allen Zusammenhängen und für alle Belange vorgeschrieben. Die Schweiz hat ein ganz besonderes Verhältnis zu den Mechanismen der direkten Demokratie, die nicht einfach so exportiert werden können. Das ist nicht immer die Lösung.

swissinfo.ch: Welches sind die Risiken der direkten Demokratie? 

C.U.B.: Bei der Anwendung dieser Mechanismen, die schnelle und emotionale Reaktionen ermöglichen, ist Vorsicht geboten. Der Kampf gegen Ungleichheiten erfordert langfristige Ansätze. Hierfür ist die direkte Demokratie nicht unbedingt das beste Instrument.

Im Falle des Referendums über die Friedensabkommen in Kolumbien stellt sich die Frage, ob es angebracht war, dieses Instrument einzusetzen. [Anm.d.Red.: Am 3. Oktober 2016 stimmten 50,2% der Bevölkerung gegen die Friedensabkommen, etwa 60% enthielten sich der Stimme.] Die Ursachen des Konflikts in Kolumbien hängen unter anderem mit Fragen der Ungleichheit zusammen. Die Reduzierung eines Friedensprozesses auf ein Ja oder Nein lässt also auf beiden Seiten sehr wichtige Bestandteile des Konflikts unbeachtet.

+ Lesen Sie unsere Reportage aus Kolumbien, um mehr über die Friedensabkommen zu erfahren

swissinfo.ch: Bekundet die direkte Demokratie Mühe, Minderheiten eine echte Stimme zu geben?

C.U.B.: Ja, Minderheiten unterliegen der Mehrheit. Und Fragen der Ungleichheit betreffen vor allem marginalisierte Gruppen. Die Mehrheit wird nicht unbedingt das widerspiegeln, was für diese Minderheiten am wichtigsten ist. Dies ist eine der Gefahren, die mit diesen Mechanismen der direkten Demokratie verbunden sind.

Andere demokratische Mechanismen geben ihnen mehr Stimme. Entscheidend ist zum Beispiel die Verfassung eines Staates. Sie ist ein Sprungbrett, um marginalisierten Gruppen eine bessere Chance zu geben, eine Stimme zu haben und Ungleichheiten abzubauen.

11. Global Media Forum

Die Ungleichheiten in der Welt stehen im Mittelpunkt des 11. Global Media ForumExterner Link, das vom 11. bis 13. Juni 2018 in Bonn stattfindet. An der diesjährigen Konferenz der Deutschen WelleExterner Link nehmen rund 2000 Vertreter aus Wirtschaft und Politik, Wissenschaftler, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und Journalisten aus 120 Ländern teil.

(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)

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