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Politskandal in der Ukraine überschattet Euro 2012

Reuters/Gleb Garanich

Vor Beginn der Fussball- Europameisterschaft hat die Schweiz, wie andere europäische Staaten, von der Ukraine weitere Reformen des Rechtssystems gefordert. Die Inhaftierung von Oppositionsführerin Julia Timoschenko wirft Schatten auf die Euro 2012.

Schweizer Regierungsmitglieder werden sich kein einziges Spiel in der Ukraine anschauen, obwohl sich die Schweiz dem Boykott einzelner europäischer Länder nicht anschliesst. Diese hatten verkündet, die Spiele in dem Land nicht zu besuchen, das zusammen mit Polen die Euro 2012 durchführt. Der Boykott ist ein Protest gegen die Behandlung der inhaftierten früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko durch das ukrainische Regime.

Ausser der Präsenz des Schweizer Verteidigungs- und Sportministers Ueli Maurer am Eröffnungsspiel in Warschau zwischen Griechenland und Polen seien nie weitere offizielle Schweizer Besuche von Euro 2012-Spielen in Polen und der Ukraine vorgesehen gewesen, sagt die Sprecherin des Ministeriums von Bundesrat Maurer (VBS), Sonja Margelist, gegenüber swissinfo.ch.

Auf dem Rasen ist die Schweiz an der Euro 2012 nicht vertreten, weil die Fussball-Nationalmannschaft unter Trainer Ottmar Hitzfeld die Qualifikation nicht schaffte.

Die 51-jährige Julia Timoschenko war im Oktober 2011 wegen angeblichen Machtmissbrauchs zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Ex-Ministerpräsidentin bezeichnete die Haftstrafe als einen gegen sie und ihr früheres Regierungsteam gerichteten Racheakt des amtierenden ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Seit ihrer Inhaftierung hat sich die Gesundheit der Politikerin verschlechtert, und sie behauptet, im Gefängnis geschlagen worden zu sein.

Die Schweiz hat ihre Vermittlungsdienste zwischen der Ukraine und der Europäischen Union (EU) angeboten und sich bereit erklärt, Julia Timoschenko in der Schweiz medizinisch behandeln zu lassen.

Europäischer Druck

Die EU hat sich besorgt über das Schicksal Timoschenkos geäussert, brachte jedoch keinen Entscheid zu einem gemeinsamen Boykott zustande. Dagegen verabschiedete das Europaparlament Ende Mai eine Resolution, in der «die bedingungslose und sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen, inklusive Oppositionsführer» verlangt wird.

Die EU-Kommission erklärte, politische Prozesse seien ein «systematisches» Problem in der Ukraine und erforderten eine weitgehende Reform des Rechtssystems. Frühere Regierungsmitglieder stünden auch unter Risiko.

Im März dieses Jahres arbeitete die EU den technischen Rahmen eines Assoziationsabkommens mit der Ukraine für eine bessere politische und wirtschaftliche Integration aus. Ein Schritt, der Kiew dazu bringen sollte, näher an die Übernahme von «europäischen Werten» zu bringen, wie zum Beispiel der Rechtsstaatlichkeit. Doch die EU erklärte, die Ukraine müsse «im Geist dieses Assoziationsabkommens handeln», vor allem in Fragen wie politisch motivierte Prozesse, Unabhängigkeit der Justiz und selektive Gesetzesanwendung.

Präsident Janukowitsch hat erkannt, dass der Fall Timoschenko die Integration der Ukraine in die EU behindern könnte. Er gab bekannt, ausländische Juristen würden den Fall Timoschenko gesetzlich prüfen und demnächst ihre Befunde unterbreiten.

Reformen «in Bewegung»

Die Schweiz hatte 1999 in Kiew ein Büro der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) eröffnet. Das laufende Strategieprogramm 2011-2014 für die Ukraine (Budget: 16,9 Millionen Franken) konzentriert sich auf lokale Regierungsführung und öffentliche Dienste, Gesundheit für Frauen und Kinder sowie Reformen bei Teilen des Rechtssystems.

Nach Angaben der Deza wurden europäische Normen wie das Prinzip einer unabhängigen und starken Justiz in das Konzept des ukrainischen Rechtswesens aufgenommen. Das 14 Jahre alte Projekt wird allmählich reduziert und noch dieses Jahr an die EU und die USA übergeben. Weiter seien Fortschritte erzielt worden in den Bereichen Jugendkriminalitäts-Prävention, Haftbedingungen für verletzliche Häftlinge wie Frauen mit Kindern und jugendliche Delinquenten. Zudem sei Mediation als neues Element der Strafprozessordnung anerkannt worden.

«2011 nahm die Jugendkriminalität in der Ukraine in gewissen Gebieten um 8 bis 9% ab, auf nationaler Ebene um 6,1%», sagt Carole Wälti, Sprecherin des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten (EDA), gegenüber swissinfo.ch. Verbesserungen seien auf einzelne Bereiche und Regionen beschränkt. Aber sie seien ein wichtiger Beitrag zum gesamten Reformprozess, der langsam sei, aber «in Bewegung», so Wälti.

Die EU-Kommission bezeichnet die am 14. März dieses Jahres verabschiedete neue ukrainische Strafprozessordnung als «Schritt vorwärts», doch müssten auch beim Strafgesetz Reformen gemacht werden. Die EDA-Sprecherin teilt diese Meinung. «Die neue Strafprozessordnung bringt einige wichtige Verbesserungen für Inhaftierte. Doch wird sich die Situation für verurteilte Gefangene nicht verbessern, deshalb muss auch das Strafgesetz angepasst werden. Letzten Herbst gab es im Parlament einen entsprechenden Versuch, doch wurde der Gesetzesentwurf für die Reform abgelehnt.

Verbesserter Gesundheitszustand

Julia Timoschenko beendete im vergangenen Monat ihren Hungerstreik und wurde zur Pflege ihrer chronischen Rückenschmerzen vom Gefängnis in ein Spital verlegt. Schon vorher hatte Karl Max Einhäupl, Chef des Berliner Charité-Spitals, mitgeteilt, der Gesundheitszustand der Ex-Ministerpräsidentin habe sich verbessert, doch bleibe ihre Behandlung weiterhin schwierig. Der deutsche Spezialist hatte Timoschenko zuvor medizinisch untersucht.

Die ukrainischen Behörden wiesen Vorwürfe zurück, wonach Timoschenko schlecht behandelt worden sei. Sie lehnten eine Freilassung ab und bezeichneten den Boykott der Euro 2012 als «Methode des Kalten Krieges».

Die Behörden halten den Druck auf die Oppositionspolitikerin weiterhin aufrecht und beschuldigen sie zusätzlich der Steuerhinterziehung. Weiter untersuchen sie, ob Timoschenko möglicherweise in den Fall eines vor 16 Jahren erfolgten Auftragsmordes involviert sein könnte.

Die Show muss weitergehen

Eugenia Timoschenko, die Tochter der inhaftierten früheren Regierungschefin, erklärte, sie verstehe den politischen Boykott. «Aber ich denke, sportliche Events sollten weitergehen. Als meine Mutter noch in der Regierung war, kämpfte sie dafür, dass die Euro 2012 in der Ukraine stattfinden soll», sagte die Tochter gegenüber der BBC.

Auch die ukrainischen Oppositionsführer haben die europäischen Staats- und Regierungschefs dringend gebeten, die Spiele zu besuchen.

«Das idealste Szenario wäre, wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs an die Spiele kommen, Präsident Wiktor Janukowitsch jedoch keinen Besuch abstatten. Es soll ein Besuch bei der ukrainischen Bevölkerung werden, nicht beim Präsidenten», sagte der Chef der Oppositionspartei ‹Front für den Wandel› (‹Front for Change›), Arseniy Yatsenyuk.

Seit 1991 ist die Ukraine mit ihren 46 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern unabhängig. Mit einer Fläche von 600’000 km2 ist sie das zweitgrösste Land des europäischen Kontinents.

Kulturell liegt die Ukraine zwischen Russland und dem Westen: Kiew und Moskau haben zwar gemeinsame historische Wurzeln, doch ein grosser Teil des Landes fühlt sich eher dem Kulturkreis ihrer europäischen Nachbarn wie etwa Polen zugehörig.

2004 stürzte die Bevölkerung den für die Nachfolge von Präsident Leonid Kutschma in einer Stichwahl gewählten Wiktor Janukowitsch wegen Vorwürfen der Wahlfälschung. Nach der «Orangen Revolution» wurde bei einer erneuten Stichwahl der westlich orientierte Wiktor Juschtschenko gewählt. Trotz Unterstützung durch die USA und die EU stürzte die neue Regierung bald in eine Krise.

2006 strafte das Stimmvolk die orangene Regierung ab und wählte den prorussischen Kutschma-Mitstreiter Janukowitsch in die Regierung.

Nach der Wahl stritten sich die beiden Führungsfiguren der «Orangen Revolution», Juschtschenko und Julia Timoschenko, um die Bildung einer neuen Regierung und stürzten das Land in eine institutionelle Krise.

2010 wurde Juschtschenko abgewählt und übergab den Stab an Janukowitsch, der die Integrationsbemühungen der Ukraine in die NATO und die EU sofort stoppte.

Die Schweiz unterstützt die Ukraine in folgenden Bereichen: technische und finanzielle Hilfe für Projekte zur Stärkung lokaler Regierungsführung und kommunaler Dienstleistungen, Verbesserung des Gesundheitswesens, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Energiebewirtschaftung, Unterstützung der Reform des ukrainischen Justizwesens.

1997 unterzeichneten die Schweiz und die Ukraine ein Rahmenabkommen über technische, wirtschaftliche und humanitäre Zusammenarbeit. Die Schweiz eröffnete 1999 ein Kooperationsbüro in der Hauptstadt Kiew. 2011 unterstützte die Schweiz Aktivitäten im Umfang von 16,9 Mio. Fr.

In den letzten 10 Jahren haben sich die Importe und Exporte zwischen den beiden Ländern vervierfacht. 2011 exportierte die Schweiz Waren im Wert von 612 Mio. Fr. und importierte Güter für 62 Mio. Fr., was aber lediglich 0,3% und 0,03% des Totals an Exporten respektive Importen entspricht.

Die Ukraine ist der zweitgrösste Exportmarkt innerhalb der ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Schweiz exportiert besonders pharmazeutische und chemische Produkte sowie Uhren.

(Quellen: Deza, Seco)

(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)

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