«Hollande hat die Hoffnungen der französischen Linken enttäuscht»
Der sozialistisch geprägte Freiburger Historiker Alain Chardonnens beschäftigt sich intensiv mit den Reden der französischen Präsidenten. Zum Ende der fünfjährigen Amtszeit von François Hollande sieht er vor allem, wie weit dieser hinter seinen ursprünglichen Versprechen zurückgeblieben ist.
Alain Chardonnens ist «schon in sehr jungen Jahren in den Zaubertrank der Politik gefallen». In den 1970er-Jahren, als fast alle Gemeinden des Freiburger Broyebezirks von den Christlichdemokraten regiert wurden, stand sein Vater als Sozialist der Gemeinde Domdidier vor.
«François Mitterrand war für meinen Vater eine Art Schutzpatron», berichtet der an der Universität Freiburg lehrende Historiker. «Einen Teil dieser Bewunderung habe ich mir wohl bewahrt: Auf meinem Nachttisch liegen die ‹Lettres à Anne›, die Briefe des damaligen französischen Präsidenten an seine Geliebte Anne Pingeot.»
Mit 20 Jahren liest Chardonnens Jean Ziegler. «Ich habe mir den Rat zu eigen gemacht, den Che Guevara ihm gab: ‹Dein Platz ist hier. Hier ist das Gehirn des Monsters, hier musst du kämpfen.'» Bei den Freiburgern fällt der Kampf vielleicht etwas weniger revolutionär aus. Doch als überzeugter Sozialist begeistert sich Chardonnens für den politischen Diskurs: von Alain Berset über François Hollande bis hin zu Barack Obama. «Derzeit beschäftige ich mich mit den Reden Emmanuel Macrons», ergänzt der Politologe.
Die bald zehn Werke von Alain Chardonnens werden allesamt in Frankreich verlegt. Auch wenn er noch weit von den Bestsellern eines Jean Ziegler entfernt ist, haben einige seiner Bücher doch grossen Erfolg – insbesondere seine in 15’000 Exemplaren verkaufte Übersetzung der Reden Barack Obamas («La Promesse de l’Amérique», Editions Buchet Chastel).
swissinfo.ch: Sie haben die Rede François Hollandes publiziert, die er 2012 als Präsidentschaftskandidat in Le Bourget hielt. Wofür steht diese Rede? Für den wahren Kern Hollandes?
Alain Chardonnens: Interessanterweise bin ich der Einzige, der diese bedeutende RedeExterner Link in einem Buch veröffentlichtExterner Link hat. Schliesslich hat dieser Auftritt François Hollande im Herzen der Linken verankert. Manche seiner Ausführungen sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen, insbesondere: «Als Präsident der Republik verschreibt man sich dem Gemeinwohl, auf dem jede Entscheidung gründen muss (…) Als Präsident der Republik gilt es den Staat, seine Neutralität, seine Integrität gegenüber den Mächten des Geldes zu bewahren …». Diese Sätze wiederholt er später in der Debatte mit Nicolas Sarkozy. Er erklärt auch, dass sein «Widersacher die Finanzwelt» ist.
swissinfo.ch: Was ist aus diesen Versprechen geworden?
A. Ch.: Jedem Sozialisten muss es wehtun, diese «Bibel» des Hollandismus noch einmal zu lesen. Grosse Wahlkampfversprechen, die nicht gehalten wurden: die Neuordnung der deutsch-französischen Beziehungen, die Neuverhandlung des Europäischen Fiskalpaktes, die Bankenregulierung samt Trennung von Kreditgeschäft und spekulativen Aktivitäten. Vor allem hat sich Hollande trotz seiner Versprechen von Le Bourget nicht zum europäischen Anführer einer Wachstumspolitik aufgeschwungen. Wie sein früherer Berater Aquilino Morelle in seinem jüngsten WerkExterner Link schildert, hörte Hollande nicht einmal auf Barack Obama, der ihn zu einer Investitions- und Wachstumspolitik drängte. Er orientierte sich lieber an Angela Merkel und ihrem Sparkurs.
swissinfo.ch: Wie erklären Sie sich das?
A. Ch.: In seinem Innersten ist François Hollande Sozialdemokrat. In der sozialistischen Partei ordnete er sich eigentlich immer Mitte-Rechts ein. Sein erster Fehler war die Ernennung von Jean-Marc Ayrault zum Premierminister. Keiner von beiden hatte zuvor ein Ministeramt ausgeübt, Regieren war ihnen fremd. Dabei müssen die wichtigen Entscheide in den ersten beiden Jahren der fünfjährigen Amtszeit fallen. Als Manuel Valls, der Ayrault 2014 ablöst, die Arbeitsmarktreform in Angriff nimmt, ist es schon zu spät: Die Linke ist zerstritten, und der Schwung aus dem Sieg Hollandes ist längst verflogen.
swissinfo.ch: Welches Vermächtnis wird Hollande in der Geschichte der Fünften Republik hinterlassen?
A. Ch.: Keine Louvre-Pyramide, kein Museum, keine grosse Bibliothek wie sein sozialistischer Vorgänger Mitterrand, aber – was diese so genannte «normale» Präsidentschaft gut widerspiegelt – gewisse Antworten auf gesellschaftliche Entwicklungen. Als sein grösster Erfolg natürlich die Ehe für alle sowie der Neuzuschnitt der französischen Regionen. Und dann erwies sich dieser so friedfertige Mensch auch noch als guter «Kriegspräsident». Die im Januar 2013 in Mali durchgeführte Operation SERVAL war zweifellos ein Erfolg.
swissinfo.ch: Wer wird sich nach Hollande noch einmal als «normalen Präsidenten» ausgeben wollen?
A. Ch.: Ob man Hollande mit seinem gesunden Verhältnis zum Geld und seiner moralischen Integrität nun als normal oder anormal bezeichnen will, ist wohl Auslegungssache. In dieser so auf den Präsidenten ausgerichteten Fünften Republik ist es allerdings utopisch, «normal» sein zu wollen. Auf die nun anstehende Präsidentschaftswahl trifft das Attribut «normal» ohnehin kaum zu. Von Jean-Luc Mélenchon über François Fillon, Benoît Hamon und Emmanuel Macron bis hin zu Marine Le Pen bringen die wichtigsten Präsidentschaftskandidaten eine Menge Charisma und Testosteron mit. Und die Franzosen lieben das!
Von der Rede in Le Bourget bis zum Verzicht auf eine zweite Amtszeit
2012: Als Gewinner der sozialistischen Vorwahlen präsentiert François Hollande im Januar in Le Bourget die Grundzüge seines Programms. Am 6. Mai schlägt er in der Präsidentschaftswahl mit 51,64% der abgegebenen Stimmen Amtsinhaber Nicolas Sarkozy. Im Dezember kippt der Verfassungsrat sein Gesetzesvorhaben, Einkünfte oberhalb von jährlich 1 Million Euro mit 75% zu besteuern.
2013: Frankreich führt als 14. Land die Homo-Ehe ein. Diesem Gesetz war massiver Widerstand entgegen gebracht worden.
2014: Manuel Valls wird neuer Premierminister. Dies leitet die «sozialliberale» Phase der Präsidentschaft Hollandes ein. Die Regierung reduziert die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Im Gegenzug sollen neue Arbeitsplätze entstehen. Die Zahl von 3,5 Millionen Arbeitslosen kann aber nicht spürbar gesenkt werden.
2015: Nach den Pariser Attentaten auf die Redaktion von Charlie Hebdo und denen im November kündigt Hollande an, wegen Terrorismus verurteilten Doppelstaatlern die französische Staatsangehörigkeit zu entziehen. Angesichts des Aufstands der Linken gibt er dieses Vorhaben auf.
2016: Hollande verzichtet auf eine zweite Amtszeit.
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