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«Der 9. Februar lässt sich nicht einfach wegzaubern»

Die Bundesräte Didier Burkhalter, Simonetta Sommaruga und Johann Schneider-Ammann traten am 11. Februar 2015 zu dritt vor die Presse, um den Vorschlag der Landesregierung zu präsentieren. Reuters

Auch wenn niemand zufrieden damit ist, sei das Gesetzesprojekt des Bundesrats zur Umsetzung der "Masseneinwanderungs-Initiative" vermutlich der einzige gangbare Weg, kommentiert ein Teil der Schweizer Presse. Andere sind skeptischer, aber einig darüber: Um das Knäuel zu entwirren, werden die Schweizer wohl früher oder später wieder an die Urne gerufen werden.

«Bundesrätliches Schattenboxen», «Keinen Schritt weiter», «Mission impossible», «Der 9. Februar lässt sich nicht wegzaubern», aber auch «Clever gemacht, Bundesrat», titeln die Schweizer Zeitungen am Tag nach der Erklärung des Bundesrats, wie in der Causa «Masseneinwanderungs-Initiative» weiter verfahren werden soll. Im Zentrum der Vorlage stehen Zuwanderungs-Kontingente, der Inländervorrang und Massnahmen zur Aktivierung des inländischen Arbeitskräftepotenzials.

«Ein ganzes Jahr hat der Bundesrat benötigt, um nach verwirrenden Einzelmeldungen seiner Mitglieder einen Gesetzesentwurf zur Zuwanderungsinitiative zu präsentieren», kommentiert der Zürcher Tages-Anzeiger. «Viel gebracht hat die lange Vorbereitung nicht.» De facto sei man heute «gleich weit wie am Abend des 9. Februar 2014».

Weder Bern noch Brüssel hätten in diesem Jahr seit der Annahme der Initiative Auswege aus dem Dilemma aufgezeigt. «Diese Mission ist schlicht nicht zu erfüllen. Damit wird eine neue Abstimmung wohl unumgänglich – sei es in Form der Rasa-Initiative, die den Zuwanderungsartikel streichen will. Oder als Grundsatzabstimmung zur Frage: Bilaterale Verträge oder Kontingente?»

Wichtig sei nun für alle, sich im Wahljahr nicht von wahltaktischen Überlegungen leiten zu lassen, und etwa «wie der Bundesrat auf Zeit spielen und bis nach den Wahlen warten» zu wollen. Die Europafrage sei «zu wichtig für das Land».

«Wohlstand gefährdet»

Seit dem 9. Februar 2014 befinde sich das Verhältnis der Schweiz zum Rest Europas «in einem gefährlichen Schwebezustand, der den Wohlstand des Landes gefährdet», schreibt die Neue Zürcher Zeitung. «Seither wartet das ganze Land darauf, dass irgendetwas passiert, um diesen Widerspruch aufzulösen.»

Doch beim gestrigen Auftritt dreier Bundesräte vor den Medien in Bern sei der Befreiungsschlag nicht gekommen: «Auch ein Jahr nach dem 9. Februar geht die Schweizer Politik ihren gemächlichen Gang.» Ein Durchbruch lasse weiterhin auf sich warten, womit das Land «sein schwierigstes politisches Problem ungelöst vor sich her» schiebe.

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Deshalb sei nun der «Turbo» zu zünden, fordert die NZZ. «2015 muss das Jahr der Gespräche mit der EU werden. 2016 dürfte das Jahr der Entscheidung sein: Die Schweiz wird abwägen müssen, wie stark sie die Bilateralen und wie stark sie die Steuerung der Zuwanderung gewichtet. Dann wird sich der Bundesrat nicht mehr um Leadership drücken können. Und die Chancen steigen, dass das Volk nochmals abstimmen muss.»

Die Westschweizer Le Temps glaubt, der Bundesrat habe einen «Trick» gefunden, um die Bilateralen Verträge zu retten. Mit dem binären System, bei dem EU- und EFTA-Staatsangehörige noch vom Abkommen über den freien Personenverkehr profitieren könnten, während andere Kontingenten unterliegen würden. Doch diese «Strategie der politischen Akrobatik» hat laut der Zeitung ein Ziel: Die Vorbereitung des Terrains auf eine unabwendbare nächste Abstimmung.

«Pragmatischer Bundesrat»

Die Aargauer Zeitung lässt sich von den «niederschmetternden» Reaktionen von Parteien und Verbänden zum bundesrätlichen Kurs nicht täuschen: «Geschehe nichts Schlimmeres! Es ist Wahljahr. Wer nicht laut ausruft und hyperventiliert, hat in unserer dauererregten Gesellschaft schon verloren. Darum rufen alle aus und finden viele alles schlecht, was ‹in Bern oben› entschieden wird.»

Eine Initiative teilt die Schweiz

Am 9. Februar 2014 sagten 50,3% des Schweizer Stimmvolks Ja zur Initiative gegen Masseneinwanderung (MEI).

Vor allem in der Deutschschweiz und noch stärker im Tessin fand die Initiative Gehör. In der französischsprachigen Westschweiz wurde sie mehrheitlich abgelehnt.

Der Verfassungsartikel 121a verlangt, die Zuwanderung mit Kontingenten zu begrenzen. Damit würde die Schweiz aber das Personenfreizügigkeits-Abkommen mit der EU verletzen.

Dabei liege der Bundesrat mit seiner Linie genau richtig. «Seine Botschaft lautet: Wir steuern die Zuwanderung aus der EU selber, sofern wir dies mit der EU auch so aushandeln können. Falls nicht, dann eben nicht.» Eine solche Haltung habe nichts mit Mutlosigkeit oder Schwäche zu tun, wie es gestern oft geheissen habe. Sie sei schlicht pragmatisch, denn: «Die totale Konfrontation mit Brüssel, wie sie von den Nationalkonservativen gefordert wird, schadet unserer Wirtschaft.»

Der Versuch, in Brüssel etwas herauszuholen, sei zwar höchstwahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. Trotzdem kommt die AZ zum Schluss: «Durchwursteln ist unsexy, aber letztlich das, was die Schweiz schon seit je gut verstanden hat.»

Der Vorschlag des Bundesrats sei «politisch genau richtig», ist Der Bund überzeugt. «Weder gibt er gegenüber Brüssel voreilig den Volksauftrag preis, die Initiative umzusetzen, noch provoziert er den Gesprächspartner durch Übermut – deshalb der ausdrückliche Vorbehalt, dass die Initiative nur mit dem Segen der EU umgesetzt werden könne.»

Den Wunsch des Stimmvolks nach weniger Zuwanderung in die Schweiz gelte es auf jeden Fall zu respektieren. Deshalb sei der Auftrag an die Regierung klar: «Bevor an eine neue Abstimmung zu denken ist, muss der Bundesrat in Brüssel versuchen, wenigstens kleine Hebel zur Steuerung der Zuwanderung herauszuholen, vielleicht sogar eine Art Schutzklausel.» Und der Bundesrat sei auf dem richtigen Weg: «Der 9. Februar lässt sich nicht einfach wegzaubern. Man muss ihn abarbeiten.»

Der Bundesrat sei gestern «keinen Schritt weitergekommen», glaubt hingegen der Kommentator der Neuen Luzerner Zeitung. «Sicher ist nur: Es steht ein innenpolitisches Gezänk bevor. Die Wirtschaft und die meisten Parteien murren. Die SVP droht mit einer Durchsetzungs-Initiative.»

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Das Fazit der NLZ: «Einerseits schwächt der Bundesrat mit der Offenlegung der ultimativen Ziele seine Verhandlungsposition. Die EU weiss: Die Schweiz geht nicht auf Konfrontationskurs. Andererseits ist es aber lobenswert, dass der Bundesrat auf stabile Beziehungen mit dem wichtigsten Handelspartner setzt.»

«Bundesrat hatte keine andere Wahl»

Für die drei Westschweizer Zeitungen «L’Express», «L’Impartial» und «Le Nouvelliste» hat die Regierung die «Konfrontation mit der Schweizerischen Volkspartei (SVP) der Konfrontation mit der EU» vorgezogen. Die Priorität sei klar: Die Aufnahme von EU-Bürgern muss immer dem Abkommen über die Personenfreizügigkeit unterliegen.

Doch für die drei Zeitungen ist diese «Zauberei» nicht genügend. Die Regierung müsse innenpolitische Massnahmen ergreifen, um die Einwanderung zu meistern. In dieser Optik seien die Anreize für die Einstellung einheimischer Arbeitskräfte «ein erster Schritt».

«Für den Moment ist es der korrekteste Weg», titelt der Corriere del Ticino. Seit das Volk den Verfassungsartikel gutgeheissen habe, seien viele Ideen aufgetaucht. Keine habe aber bisher einen gangbaren Weg aufgezeigt. «Es gibt weder bombensichere Lösungen noch wundersame Formeln. Der vom Bundesrat gewählte Weg, die Initiative wortgetreu umzusetzen und gleichzeitig Verhandlungen mit Brüssel zu versuchen, mag nicht allen gefallen, doch er ist gegenüber dem Volk der korrekteste und politisch am wenigsten schlimmste.»

Auch für La Regione hatte der Bundesrat «keine andere Wahl». Am 9. Februar 2014 «hat das Stimmvolk Regierung und Parlament ein klares Mandat erteilt. Die Schweiz muss die Kontrolle über die Migrationsströme wieder selber übernehmen, selbst wenn es EU-Bürger betrifft. «Dieses Prinzip, gemäss dem der Inländervorrang gilt, wurde in der Bundesverfassung festgehalten, und der Bundesrat hat keine andere Möglichkeit, als jene verfassungsmässige Verpflichtung in die Praxis umzusetzen, auch wenn er sich der Konsequenzen bewusst ist, die all das in den Beziehungen zum Ausland haben könnte, namentlich mit der EU.»

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