Österreich gespalten – Aussöhnung wird schwierig
Nach fast 24 Stunden Hochspannung gewinnt der frühere Grünen-Chef Alexander Van der Bellen die Bundespräsidentenwahl in Österreich gegen seinen rechtspopulistischen Konkurrenten Norbert Hofer äusserst knapp. Trotz der Erleichterung ist die Schweizer Presse der Meinung, es werde schwierig, dieses tief gespaltene Land auszusöhnen.
«Van der Bellen siegt nach Berg-und-Tal-Fahrt», «Bei aller Knappheit ein Votum gegen rechts», «Neuer Präsident, altes Land», «Weniger schlimm», «Auch mit dem Grünen wächst Österreich nicht zusammen», «Polarisierung in Europa nicht gebannt», «Ein blaues Auge für Österreich». Mit diesen Titeln kommentieren die Schweizer Zeitungen die denkwürdige Wahl zum neuen österreichischen Bundespräsidenten.
Die Präsidentenwahl war ein Rennen, das erst auf der Ziellinie entschieden wurde: Am Sonntagabend standen sich die beiden Kandidaten noch mit je 50,0% gegenüber. Erst am Montagnachmittag war das endgültige Resultat bekannt: mit 50,3% ein hauchdünner Sieg für den von den Grünen vorgeschlagenen Alexander Van der Bellen.
«Am Ende verschliefen der staatliche Rundfunk und das Innenministerium das Resultat: Als sie überkorrekt auf die Auszählung der allerletzten Stimmen warteten, gestand Norbert Hofer, der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), seine Niederlage auf Facebook ein. Er nahm so auch den Verschwörungstheoretikern aus dem eigenen Lager den Wind aus den Segeln, die sofort Wahlbetrug schrien», schreibt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ).
Van der Bellen, der 72-jährige Tiroler Akademiker, habe im Ausstich gegen den 45-jährigen «smarten Rechtspopulisten Hofer» eine bemerkenswert dynamische Leistung gezeigt: «Er hat im Fotofinish einen Kandidaten besiegt, der nach dem ersten Wahlgang uneinholbar in Führung schien. Van der Bellen half seine unaufgeregte Art.»
Letztlich sei es bei dieser Wahl darum gegangen, Hofer zu verhindern. Die Einsicht habe knapp gewonnen, dass «ein Experiment Hofer in der Hofburg unnötige Risiken bedeutet hätte. Dessen Ankündigung, er würde bei Bedarf auch die Regierung entlassen, löste neben der bestehenden Antipathie gegen die Rechtspopulisten zusätzlichen Unmut aus», so die NZZ.
Die oft zitierte Spaltung Österreichs müsse nicht zu stark auf Van der Bellen gemünzt werden, dessen Aufgabe es als Bundespräsident nicht sei, sich in die Arbeit der Regierung einzumischen. Dass mit der FPÖ «eine derart regierungsunfähige Partei auf fast die Hälfte der Stimmen gekommen ist, muss deshalb weniger Van der Bellen als der Regierungskoalition zu denken geben. Für sie muss das blaue Auge aus der Wahl ein Alarmsignal und Weckruf sein».
Nun sei es an den gemässigten Parteien, die richtige Balance zu finden «zwischen Schnellschüssen und phlegmatischer Behäbigkeit», wenn sie «ihr Land nicht den Rechtspopulisten ausliefern» wollten, schliesst die NZZ.
«Sensation»
«Sage einer, die parlamentarische Demokratie sei langweilig und altmodisch: In einer emotionalen Achterbahnfahrt und einem rasanten Finish war Österreich schon in den Tiefen des Rechtspopulismus angelangt. Und plötzlich scheint alles anders. Ein roter Kanzler, ein grüner Präsident: Für Österreich, wo es noch nie Rot-Grün gab, ist das eine Sensation», schreiben die Aargauer Zeitung und die Südostschweiz.
Österreich sei nicht so rechts, nicht einmal so konservativ, wie das benachbarte Ausland es sich gerne einrede. «Alexander Van der Bellen ist ein Österreicher durch und durch. Mit seiner Gelassenheit, seiner Selbstironie, seiner Toleranz und seiner Widerständigkeit gegen die Zumutungen von Konformismus und Spiessertum verkörpert der 72-Jährige eine sympathische Seite Österreichs. Man müsste sich nicht wundern, wenn der Grüne ein sehr populäres Staatsoberhaupt würde.»
Bei der Wahl sei es eindeutig darum gegangen, den rechtspopulistischen Kandidaten zu verhindern, so der Kommentator weiter. «Das ist gelungen, aber um einen hohen Preis.» Denn es genüge nicht, die «blauen» von der FPÖ nicht mitregieren zu lassen: «Man muss auch klar sagen, warum. Hier liegt die Chance und womöglich die Stärke des neuen Bundespräsidenten: Er kann einen anderen Ton anschlagen – einen klareren, präziseren, ehrlicheren.»
Auch für das St. Galler Tagblatt ist klar: «Österreicherinnen und Österreicher wollen keinen Präsidenten haben, hinter dessen freundlicher Fassade sich ein rechter Antieuropäer und deutschnationaler Burschenschafter mit autoritären Ansichten versteckt. Sie wollen einen Staatsmann, der für ein offenes, europafreundliches Österreich steht und für den man sich im Ausland nicht schämen muss.»
Der knappe Sieg Van der Bellens beweise, «dass der Aufstieg der rechtspopulistischen Volksverführer und Vereinfacher nicht unaufhaltbar ist». Das Ergebnis habe Signalwirkung weit über das Land hinaus: «Österreich ist haarscharf an der zweifelhaften Ehre vorbeigeschrammt, das erste westliche EU-Land mit einem Rechtspopulisten als Staatsoberhaupt zu werden.»
Doch die FPÖ habe vorerst nur eine Schlacht verloren: «Jetzt beginnt ihr Feldzug ums Kanzleramt: Sie wird jetzt den innenpolitischen Druck massiv erhöhen, um Neuwahlen herbeizuzwingen.»
Für die Basler Zeitung haben die Wähler in Österreich «den weniger problematischen Kandidaten gewählt»: «Die postmoderne Geschichtslosigkeit der FPÖ deprimiert: ‹Österreich! Österreich!›, skandierten Hofers Anhänger am Sonntag, doch die Wurzeln der Partei liegen tief im deutschnationalen Milieu.»
Nun werde Österreich also für mindestens sechs Jahre mit Van der Bellen leben müssen: «Schlimm ist das nicht: Endet seine Amtszeit einmal, wird er aller Voraussicht nach rasch dem Vergessen anheimfallen. Der letzte österreichische Präsident, der auffiel, war Kurt Waldheim, wegen seiner dubiosen Rolle in der Nazizeit. Hofer, so wäre im Fall seiner Wahl zu befürchten gewesen, wäre auch bemerkt worden.»
Europafrage
Während die österreichische Bundespräsidentenwahl in der französischsprachigen Westschweiz kein Thema in den Kommentarspalten war, stellen die Tessiner Zeitungen die Wahl in den europäischen Kontext. Diverse Länder werden von wirtschaftlichen und sozialen Problemen beherrscht, und die Ängste der Bevölkerung nehmen von Tag zu Tag zu.
«Auf diesen Ängsten haben Parteien wie die FPÖ des populistischen Kandidaten Hofer ihre Wahlerfolge aufgebaut, während in einigen europäischen Ländern die traditionellen Parteien, viele Jahre an der Macht, aber unfähig, auf die Belange eines nicht unbeträchtlichen Teils der Bevölkerung zu reagieren, jetzt mit einem erheblichen Verlust an Unterstützung rechnen müssen», schreibt der Corriere del Ticino.
Die FPÖ werde im Wahljahr 2018 bestimmt eine harte Schlacht anzetteln, die widerspiegle, was in einem Europa geschehe, wo «die gesamte politische Landschaft alles andere als beruhigend ist», mit «der Unfähigkeit verschiedener Regierungen wie auch der EU-Führungsspitze, die Probleme der Bevölkerung anzuhören und glaubhafte Lösungen vorzuschlagen», während sie die Frustrationen der Menschen den Rechtspopulisten überlassen würden.
Ähnliche Töne schlägt La Regione an. Sie legt den Finger auf den «langen Prozess der Sinnentleerung, den linke Regierungen in Europa betrieben haben, darunter die österreichische, was die Abwanderung von Stimmen weg von klassischen sozialdemokratischen Bewegungen hin zu Nationalismus aller Art beweist».
«Nun wird sich der Blick auf Deutschland und Frankreich richten, wo bereits im kommenden Jahr nationale Wahlen stattfinden werden», schreibt das Bündner Tagblatt. «In Frankreich sind die Chancen der Präsidentin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, gewachsen, Präsident François Hollande abzulösen. Und in Deutschland dürfte der EU-kritischen AFD der Einzug in den Bundestag gelingen. In den Niederlanden und in Belgien verzeichneten Rechtspopulisten ebenfalls Zuwachs, wie auch in Dänemark.»
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch