Kein Votum gegen Energiewende
"Gewonnen haben die Ausstiegspragmatiker", "Kein Blankocheck", "Ein Nein mit Augenmass": Die Schweizer Medien interpretieren das Nein des Schweizer Stimmvolks zur Initiative der Grünen Partei für einen raschen Ausstieg aus der Atomenergie ähnlich: Die Mehrheit sei für eine Energiewende, aber schrittweise und geordnet.
Der Ausstieg aus der Atomenergie, der in der Initiative als «geordnet» deklariert wurde, faktisch aber einen rasches Abschalten der AKW bedeutet hätte, gehe der Bevölkerung zu schnell, lautet das Fazit eines Kommentars, der im Zürcher Tages-Anzeiger und im Berner Der Bund erscheint.
«Das Ergebnis ist nicht als Ausstieg vom Ausstieg zu werten. Denn bei dieser Abstimmung ging es nicht darum, ob, sondern wie die Energiewende gelingen soll.» Mit der vom Parlament verabschiedeten Energiestrategie liege ein Plan vor, wie die Schweiz bis 2050 ohne Atomkraftwerke auskommen solle. Damit bleibe mehr Zeit, um die erneuerbaren Energien auszubauen und die Stromversorgung in einem dezentralen System sicherzustellen.
«Das Resultat zeigt breiten Widerstand gegen die Atomkraft, der die Politik bei der Umsetzung der Energiestrategie in die Pflicht nimmt», kommentieren die beiden Zeitungen.
Das Ja der Westschweiz
Hätte die Westschweiz, wo die Initiative in vier Kantonen deutlich angenommen wurde, allein entschieden, so müssten die beiden Kraftwerke in Beznau sowie jenes in Mühleberg umgehend vom Netz genommen werden. Trotzdem kommen die Westschweizer Zeitungen in ihren Kommentaren zu ähnlichen Schlüssen wie ihre Kollegen in der Deutschschweiz.
Jetzt könne die Regierung mit ihrer Energie-Strategie 2050 vorwärts machen, die den organisierten Ausstieg aus der Atomenergie vorsehe und auch im Parlament breit abgestützt sei, kommentiert die Westschweizer Tageszeitung Le Temps. «Zu gegebener Zeit wird dieses Kapitel der Energiegeschichte definitiv geschlossen werden.»
Laut der Tribune de Genève war die Angst der Stimmenden, die Schweiz könnte von der Energie des Auslands abhängig werden, mitentscheidend für den Ausgang der Abstimmung. «Als ob Uran aus dem Engadin oder dem Pays d’Enhaut käme», mokiert sich die Genfer Tageszeitung. Ins Gewicht gefallen seien aber auch die von den Initianten auferlegten Fristen für den Ausstieg und die drohenden Arbeitsplatzverluste.
«Sind wir nach dem Nein auf Jahrzehnte hinaus zu einem atomaren Flickwerk verdammt? Den Himmel bittend, dass unsere alten Kessel halten und uns vor einem zweiten Fukushima bewahren werden?», fragt die Tribune rhetorisch und meint: «Das Nein ist kein Plebiszit für den Atomstrom gewesen, sondern ein Ja zur Energiestrategie 2050.»
Breiter Konsens: Keine neuen AKW
«Ein Nein mit Augenmass» lautet der Titel eines Kommentars, der in mehreren Ostschweizer Zeitungen erscheint. «1979, 1984, 1990, 2003 – und jetzt diesen Sonntag: Volk und Stände haben zum fünften Mal den Ausstieg aus der Atomenergie abgelehnt.» Aber die jüngste Abstimmung sei nicht vergleichbar mit den bisherigen. «Bis weit ins bürgerliche Lager hinein herrscht heute Konsens, dass in diesem Land keine neuen AKW mehr gebaut werden dürfen.» Das Parlament habe mit der Energiestrategie 2050 die notwendigen Beschlüsse verabschiedet. Am Wochenende sei nicht über den Ausstieg an sich abgestimmt worden, sondern über den Zeitpunkt. Und hier hätten die Stimmenden das notwendige Augenmass bewiesen und eine «energiepolitische Hauruck-Übung mit unbekannter Kostenfolge» abgelehnt.
«Gegen Atomkraft zu sein und dennoch den erzwungenen Ausstieg abzulehnen, ist in der Energiepolitik kein Gegensatz, sondern offizielle Linie», so das Fazit dieser Kommentare.
«Abkehr braucht Zeit»
Für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) ist das Ergebnis «ein Vertrauensbeweis erster Güte.» Aber es sei auch ein Auftrag an Bundesbern, die Energiewende und die Abkehr von der Atomkraft so einzuleiten, dass diese «störungsfrei und wirtschaftsverträglich» gelinge.
Die Stimmenden vertrauten offensichtlich der Atomtechnik und den Betreibern weiterhin, auch wenn die Werke ein stattliches Alter hätten. «Sie vertrauen der Aufsichtsbehörde, dass diese auch dann ihre Sicherheitsdoktrin hochhält, wenn die AKW-Betreiber unter wirtschaftlichem Druck stehen. Das Volk vertraut auch dem Bundesrat und dem Parlament, die mit der Energiestrategie 2050 versprochen haben, dass der Rückzug aus der Atomkraft geordnet vonstattengeht.»
Mit dem Nein habe das Volk verhindert, dass die Schweiz ohne Not in einen Umbau der Stromversorgung hineingetrieben werde, auf den sie nicht vorbereitet sei. «Die Abkehr vom Atomstrom braucht Zeit, und diese hat das Volk der Politik verschafft», kommentiert die NZZ.
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Klares Nein zu vorzeitigem Atomausstieg
Die Aargauer Zeitung sieht im Verlierer den heimlichen Sieger der Abstimmung. Die Bevölkerung wolle zwar nichts wissen von einem schnellen Ausstieg aus der Atomenergie. Regierung und Parlament hätten aber einen geordneten Ausstieg in Aussicht gestellt. Der Verweis auf dieses bereits geschnürte Gesetzespaket sei eines «der stärksten Pferde im Stall der Initiativgegner» gewesen. Diese Energiestrategie im Abstimmungskampf sei als echte Alternative, als gangbarer Weg hin zu einem nachhaltigeren Energieland Schweiz, präsentiert worden.
«Das nahm Linken und Grünen in wohl match-entscheidendem Ausmass Wind aus den Segeln.» Deren Zuversicht sei dennoch verständlich, sei doch davon auszugehen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung den Atomausstieg durchaus wolle – «einfach nicht im von der Initiative geforderten Tempo und mit den damit verbundenen Unsicherheiten», schreibt die Aargauer Zeitung.
Wie weiter?
Weil die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) Unterschriften gegen den Ausstieg aus der Atomenergie sammelt, wird das Volk über die Energiestrategie der Regierung abstimmen. Laut der NZZ wird es dannzumal «hart auf hart» gehen. Diese Abstimmung sei nur zu gewinnen, wenn der Bevölkerung überzeugend dargelegt werde: «Erstens, dass der Aufbau der erneuerbaren Energien und der Ersatz des Atomstroms störungsfrei, sicher und zu vertretbaren Kosten möglich sind. Zweitens, dass die Subventionswirtschaft nicht überbordet und die Auslandabhängigkeit nicht überhandnimmt. Und drittens, dass nicht alle Grundsätze des Landschaftsschutzes geopfert werden.
Das Referendum der SVP gegen die Energiestrategie 2050 sei eine «Zwängerei einer schlechten Verliererin», kommentieren der Tages-Anzeiger und Der Bund. «Bei den jahrelangen Verhandlungen im Parlament unterlag die Partei auf der ganzen Linie einer Mitte-links-Mehrheit. Doch der Urnengang kann auch eine Chance sein. Mit ihm würde sich klären, ob das Volk den Atomausstieg grundsätzlich will. Und mit ihrer geballten Schlagkraft dürfte die breite Energiewende-Allianz diese Abstimmung gewinnen.
Die SVP, die weiterhin an die Atomenergie glaube, werde die hohen Kosten für die Energiewende ins Spiel bringen, sagt die Freiburger La Liberté voraus. Es sei zwar richtig, dass dies nicht gratis zu haben sei. Die erneuerbaren Energien liessen sich nicht ohne kostspielige Massnahmen effektiv fördern.
«Aber was wäre die Alternative?», fragt La Liberté und meint: «Der Klimawandel zwingt uns saubere Energien auf. Man muss in die Zukunft investieren, anstatt eine Technologie der Vergangenheit zu erhalten.»
Stimmvolk schon früher atomfreundlich
Das Schweizer Stimmvolk hat sich vor diesem Wochenende schon sieben Mal zur Atomenergie geäussert. Meist zeigte es sich atomfreundlich: Der Ausstieg war stets chancenlos.
Die erste Initiative zur Atomenergie scheiterte 1979. Das Volksbegehren war von den Gegnern des geplanten und nicht realisierten Atomkraftwerks Kaiseraugst lanciert worden und verlangte, dass sich die betroffene Bevölkerung zum Bau von Kernkraftwerken äussern kann.
1984 lehnten Volk und Stände die Initiativen «für eine Zukunft ohne weitere Atomkraftwerke» und «für eine sichere, sparsame und umweltgerechte Energieversorgung» ab. 1990 sagten sie Nein zur Initiative «für den Ausstieg aus der Atomenergie».
Angenommen wurde damals mit der Initiative «Stopp dem Atomkraftwerkbau» aber gleichzeitig ein zehnjähriges Moratorium für den Bau neuer AKW. Die Initiative war kurz nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl lanciert worden.
Eine Verlängerung des Moratoriums lehnten Volk und Stände dann aber ab: 2003 sagten sie Nein zur Initiative «Moratorium plus», die auch eine Laufzeitbeschränkung vorsah. Gleichzeitig lehnten sie die Initiative «Strom ohne Atom» ab, die ein Abschaltdatum verlangte. Beznau I und II sowie Mühleberg hätten spätestens 2005 vom Netz gehen sollen, Gösgen 2009 und Leibstadt 2014.
(Quelle: SDA)
Atomenergie in der Schweiz und im Ausland
In der Schweiz wird Atomenergie nur für friedliche Zwecke verwendet: Zur Stromproduktion und im medizinischen Bereich, in Industrie und Forschung.
2015 haben die 5 Kernkraftwerke der Schweiz 22,1 TW Strom produziert (33,5% der nationalen Produktion). Der Reaktor I von Beznau ist zurzeit wegen Sicherheitsproblemen abgeschaltet.
Weltweit gibt es 447 Atomkraftwerke in 31 Ländern (Stand: September 2016). Der grösste Teil befindet sich in den USA (100), Frankreich (58), Japan (43), Russland (36) und China (34). Insgesamt machen sie 11,5% der weltweiten Stromproduktion aus.
(Quellen: Bundesamt für Energie, Internationale Atomenergie-Organisation)
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